Annäherung an die Ostdeutschen

 


1      Inhalt

1 Inhalt.................................................................................

2 Vorwort.............................................................................

3 Einleitung.........................................................................

4 Erfahrungsmosaik und Erklärungsversuche...............

4.1 Verhalten..................................................................

4.1.1 Nullreaktion im Gesprächskreis....................

4.1.2 Geheime Wahlen............................................

4.1.3 Kollektivismus................................................

4.1.4 Team und Kollektiv......................................

4.1.5 Persönliches..................................................

4.1.6 Statistiken......................................................

4.1.7 Beharrlichkeit................................................

4.1.8 Ich geh’ meilenweit für eine ------...............

4.2 Identität..................................................................

4.2.1 Ost - Stolz......................................................

4.2.2 Ost - Legenden.............................................

4.2.3 Politische Parteien........................................

4.2.4 Kultur und Sport..........................................

4.2.5 Schuld............................................................

4.3 Wirtschaft..............................................................

4.3.1 Produktivität.................................................

4.3.2 Ost - Vorgesetzte und Mitarbeiter.............

4.3.3 Arbeiter ohne 'krummen Rücken'...............

4.4 Werte......................................................................

4.4.1 Pessimismus..................................................

4.4.2 Soziale Sicherheit.........................................

4.4.3 'Jetzt sind wir mal dran'................................

4.4.4 Haß.................................................................

4.4.5 Klassenkampf...............................................

4.4.6 Glaube, Liebe, Hoffnung.............................

4.5 Zusammenfassende Schlüsse zu den Erfahrungen mit Ostdeutschen        

5 Fehler in der Gegenwart...............................................

5.1 Das Geld überflutet den Osten...........................

5.2 Renten....................................................................

5.3 Personalübernahmen und Verbeamtungen......

6 Zukunft - Forderungen und Chancen........................

6.1 Neue Wege für neue Probleme...........................

6.2 West - Ost Transfer.............................................

6.3 Infrastruktur..........................................................

6.4 Bildung und Erziehung........................................

6.5 Wirtschaftliche Entwicklung mit den Stärken der Ostdeutschen  

6.5.1 Brigaden von selbständigen Gesellschaftern           

6.5.2 Netzwerke von kooperierenden Kleinunternehmen

6.5.3 Neue Erfahrungsmuster..............................

6.5.4 Zwang zum Neuanfang...............................

6.6 Zukunftsszenarien zur wirtschaftlichen und politischen Entwicklung        

6.6.1 Optimistisches Szenario..............................

6.6.2 Pessimistisches Szenario............................

6.6.3 Zyklen und Wechselwirkungen.................

7 Vier Jahrzehnte Kommunismus in Ostdeutschland und die Folgen      

7.1 Einige Anmerkungen zum Alltag im Kommunismus        

7.1.1 Kollektiv........................................................

7.1.2 Ziele und Visionen.......................................

7.1.3 Wahl der einzusetzenden Mittel................

7.1.4 Klassenfeind.................................................

7.1.5 Soziale Sicherheit und Mangelwirtschaft.

7.1.6 Verteilungsgesellschaft und Verteilungskampf       

7.2 Marxismus - Leninismus (ML) und Materialismus          

7.2.1 Philosophie des ML.....................................

7.2.2 Materialistische Dialektik............................

7.2.3 Praktische Auswirkungen des dialektischen Materialismus 

7.2.4 Ist die Lehre des Kommunismus heute tot?

7.2.5 Materialistische Weltanschauung und Atheismus 

7.2.6 Anwendungsbeispiele der Theorie in der Praxis     

7.3 Unterschiedliche Erfahrungsmuster in den Köpfen        

8 Schlußwort.....................................................................

 


2      Vorwort

Was will dieses Buch, bzw. wieso wurde es geschrieben?

Ich kam vor drei Jahren mit meiner Frau und unseren zwei Kindern von Westdeutschland nach Ostberlin[1]. Seitdem haben wir im Zusammenleben mit unseren ostdeutschen Mitbürgern viele teils überraschende Erfahrungen gemacht. Es besteht eine zunächst unauffällige, aber im täglichen Zusammenleben um so intensivere Andersartigkeit der Ostdeutschen im Vergleich zu den Westdeutschen. Es gilt, diese zu begreifen und sich zumindest einen subjektiven Zugang zu den Ursachen hierfür zu verschaffen. Gerade wenn man viele Verhaltensweisen der Ostdeutschen als eine Ausprägung einer für Westler fremden Kultur begreifen gelernt hat, folgt hieraus ein Verständnis, wie dramatisch die Änderungen sind, die die Ostdeutschen seit 1990 durchgemacht haben. Hieraus läßt sich erahnen, was dies für Identität, Werte, Lebensziele u.s.w. der Ostdeutschen bedeuten muß.

Dieses Buch gibt persönliche Erfahrungen und Wahr­nehmungen wieder, wie wir sie mit westdeutscher Biographie in Ostdeutschland gemacht haben. Es soll keine wissenschaftliche Arbeit sein und behauptet nicht, eine objektive Wahrheit zu erreichen. Gleichwohl habe ich mich um die Erringung von Wahrheit und einer fairen Betrachtung der Ostdeutschen ernsthaft bemüht. Ich glaube, mich hiermit auch den Ostdeutschen angenähert zu haben (siehe Buchtitel).

Nachfolgend sollen die gemachten Erfahrungen und Eindrücke verarbeitet und die verschiedenen Gedanken hierzu sortiert und formuliert werden. Bislang gibt es nicht viele Berichte von Westdeutschen aus dem Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung. In soweit soll auch ein Schweigen durchbrochen werden, welches nicht selten in der Isolierung und Frustration der Westdeutschen in Ostdeutschland begründet ist.

Eine Ausnahme ist das kürzlich erschienene Buch ‘Kulturschock Deutschland’ [2] des heute in Erfurt lehrenden Sozialwissenschaftlers Wolf Wagner. Er diagnostiziert die heutigen deutsch-deutschen Schwie­­rigkeiten als fortgeschrittene Phase eines typischen ‘Kulturschocks’. Dieses Phänomen tritt häufig dann auf, wenn Menschen längere Zeit in ei­ner fremdartigen Kultur leben müssen. Er schildert unterhaltsam seine persönliche frühere Beziehung zum Thema DDR-BRD; wie er die Wende erlebte und seine häufig frustrierenden und befremdenden Erlebnisse in Ost - Deutschland nach der ‘Wende’. Er vermeidet eine konkrete Prognose, ob und wie der Kulturschock sich auflösen wird und wie sich seiner Meinung nach die deutsch-deutschen Beziehungen weiterentwickeln wer­­den.

An dieser Stelle soll auch das Buch ‘Anders reisen: DDR’ [3] erwähnt werden. Die beiden Autoren bereits­ten in den 80ern das Land und berichteten sehr detailliert über ihre Beobachtungen in dieser Zeit. Die Autoren bekennen sich ausdrücklich zu ihrer politisch linken Position. Gerade aus diesem Grunde berichten sie schonungslos über die gewaltigen Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der sozialistischen Gesellschaft, bzw. im Alltag seiner Bürger. Das Buch durfte übrigens nicht in die DDR eingeführt werden.

Bitte die Formulierungen im Buch nicht vorschnell in Pro- und Kontra Kategorien einordnen!!

 
Der Leser möge sich davor zu hüten, verschiedene der Formulierungen in diesem Buch vorschnell in Pro - oder Kontra - Kategorien einzuordnen. Ich möchte in offenen Worten und ohne Tabus die deutlich unterschiedlichen Ausprägungen in Persönlichkeit, Wer­­te und Lebensgefühl von Ostdeutschen im Vergleich zu den Westdeutschen darstellen. Um diese zu verstehen, werde ich einige Erklärungsversuche für die Ursachen dieser Andersartigkeit geben. Das Ziel ist ein Beitrag zu einem besseren Verständnis in Westdeutschland und zu einer notwendigen Selbsterkenntnis in Ostdeutschland.

Es ist sicherlich auch eine interessante Lektüre für andere Leser aus westlichen Ländern, die sich für die mo­mentanen Vorgänge in Osteuropa interessieren. Die Ostdeutschen haben die gleiche Sprache und die gleiche Nation wie die Westdeutschen. Die beschriebenen deutlichen Unterschiedlichkeiten sind somit kaum durch unterschiedliche Mentalität von Sachsen, Preußen und Mecklenburgern im Vergleich zu westdeutschen Regionen zu erklären. Die Gefahr, z. B. bestimmte Verhaltensweisen von Polen oder Russen im wesentlichen mit deren nationalen Traditionen zu erklären und nicht mit ihrer Vergangenheit im kommunistischen System, ist somit bei den Ostdeutschen nicht gegeben.

Ich möchte hier zu Beginn ausdrücklich betonen, daß der im Buch häufig angewandte Terminus ‘die Ostdeutschen’ nicht die natürlich vorhandenen individuellen Unterschiede zwischen einzelnen Ostdeutschen einschließt. Ich hätte eigentlich korrekterweise jedesmal schreiben müssen ‘viele Ostdeutsche...’ oder ‘eine Mehrheit bei den Ostdeutschen ....’ oder ähnliches. Die Ausdrucksform ‘die Ostdeutschen’ stellt also lediglich eine Vereinfachung dar. Hierbei wurde der Kürze des Ausdrucks und der einfacheren Lesbarkeit gegenüber der Korrektheit im Detail der Vorzug gegeben.

 

 

3      Einleitung

40 Jahre DDR hat ein, nach westeuropäischen Maßstäben, äußerlich ziemlich heruntergekommenes Ost­deutsch­land hinterlassen. Dies ist auch 1997 für den nach Ostdeutschland kommenden Westler noch leicht am Zustand der Häuserfronten und Straßen erkennbar. Zwar wurden seit 1989 enorme Veränderungen vorgenommen, und riesige Summen hierfür investiert, aber die äußerlichen Unterschiede sind immer noch drastisch und werden uns wohl noch geraume Zeit erhalten bleiben.

In der Euphorie der Wiedervereinigung hatte allerdings kaum jemand bedacht, daß auch die Menschen im sozialistischen Machtbereich Ausprägungen erfahren haben, die sie deutlich von den Westeuropäern unterscheiden. Der Zeitraum von mehr als 40 Jahren war für die Kommunisten lang genug, um ihre Erziehungsziele an fast zwei Generationen wirksam zu verfolgen. Hinzu kommt, daß in Deutschland bereits 12 Jahre bis zum Kriegsende Unfreiheit und Diktatur mit dem Versuch des Zugriffs des Staates auf die Kinder geherrscht hatte.

6 Jahre nach der Wiedervereinigung zeigt sich, daß der West/Ost - Transfer von 200 Mrd. DM jährlich und die Entsendung einer relativ kleinen Zahl von fast ausschließlich Akademikern nach Ostdeutschland offenbar nicht die Probleme löst.

Die Monatseinkommen in der DDR waren etwa 200 US$

 
Die Hauptursache dieser Probleme besteht in der For­de­rung nach der sehr schnellen Anhebung der Osteinkommen auf Westniveau. Zur Veranschaulichung dieses Problems kann man sich in Erinnerung rufen, daß in der DDR die Monatsgehälter nach internationalen Wechselkursrelationen umgerechnet etwa 200 US$ erreichten. Bis zum Erreichen des West­niveaus ist zumindest eine Verzehnfachung die­ses Einkommens erforderlich. Dies ließe sich nur mit Exporterlösen finanzieren, die mit der DDR - Wirtschaft niemals erreicht werden konnten. Heute stellt sich die Frage, ob die Teilnehmer dieses ineffizienten Wirtschaftssystems durch den Wechsel in das jetzige System den schnellen Leistungssprung zur Erzielung der gewünschten Einkommen realisieren können.

Ich gebe in diesem Buch meine Erkenntnisse und Einschätzungen wieder, die ich nach über drei Jahren Leben in Ostberlin gewonnen habe. Hiermit möchte ich dazu beitragen, die Menschen besser zu verstehen, die jahrzehntelang dem (‘real existierenden’) sozialistischen System und seinen Erziehungsmethoden ausgesetzt waren und zu einer realistischen Sicht der Möglichkeiten beitragen. Das Verständnis ist im Westen und zur Selbsterkenntnis auch im Osten eine wichtige Voraussetzung für das Zusammenwachsen Deutschlands. Diese Aussage kann aber auch auf die anderen osteuropäischen Staaten angewandt werden. Es gibt heute beträchtliche Gefahren, daß die Andersartigkeit der Ostdeutschen zunächst zu trennenden Klischees und Legenden auf beiden Seiten und schließlich zu offener Feindschaft führen könnte. Um diesem zu begegnen, müssen sich Westdeutsche, aber insbesondere auch Ostdeutsche heute dieser Realität stellen. Dies ist die Voraussetzung um Trennendes zu überwinden und gemeinsam Freiheit und Wohlstand zu bewahren, wobei der gewünschte Wohlstand aus eigener Kraft in Ostdeutschland noch erworben werden muß.

Am Anfang dieses Kapitels wurde die offensichtliche marode äußere Form des DDR Staates erwähnt. Für die Westdeutschen ist die Andersartigkeit der ostdeutschen Landsleute hingegen wesentlich subtiler wahrzunehmen. Den Ostdeutschen mag es im Gegenzug ganz ähnlich gehen. Im ersten Kontakt überwiegen die Gemeinsamkeiten. Die gleiche Sprache und vermutlich auch die anfängliche freundliche Offenheit auf beiden Seiten, bestätigt das Wissen, einen Landsmann oder -frau anzutreffen. Konfliktpunkte bei unterschiedlichen Sichtweisen werden von den Westdeutschen anfangs kaum wahrgenommen. Dies liegt sicherlich auch daran, das Ostdeutsche in mittleren Jahren aufgrund ihrer Erziehung gelernt haben, äußerlich nicht zu reagieren. Nach einiger Zeit hat der Westdeutsche dann seinerseits gelernt, daß derartige Reaktionen in bestimmten Situationen mit kollektivem Schweigen, drohendem Blick oder ignorierendem Themenwechsel sehr wohl bestehen. Aber dazu später mehr.

'Wir sprechen die gleiche Sprache, doch wir verstehen uns nicht’

Nach einiger Zeit im Osten, dies können Wochen oder Monate sein, stellt sich dann bei dem Westdeutschen zunehmende Irritation ein. Es haben sich viele kleine Ereignisse summiert, die dann bei Westdeutschen zu Aussagen führen wie (Zitat) 'Wir sprechen die gleiche Sprache, doch wir verstehen uns nicht.' Zwischenzeitlich kann es auch zu Ereignissen gekommen sein, bei denen bestimmte Ostdeutsche, wenn sie festgestellt haben, daß der Westdeutsche keine Macht über sie hat, bzw. in der Hackordnung nicht über ihnen steht, offen reagieren. Die Wucht der dann eintretenden und in ihrer Intensität überraschenden Angriffe kann durchaus zu Erlebnissen führen, die als Ostschocks bezeichnet werden können. Diesen Angriffen liegen Motive wie Disziplinierung im Kollektiv, Fehlen von Toleranz und Bekämpfung des Andersartigen (oder des Klassenfeindes; wenn man den bekämpft, sind übrigens alle Mittel erlaubt) zugrunde. Sie sind dem Westdeutschen ebenso fremd wie unverständlich. Ich hoffe, im weiteren Verlaufe dieses Buches diese fremden Begriffe hinreichend zu erläutern und ihre Herkunft verständlich zu machen.

Es war die Absicht, mit diesen einleitenden Worten das volle Konfliktpotential der aufeinanderprallenden Welten anzudeuten. Das Erkennen dieser Problematik soll ihre Überwindung möglich machen. Insbesondere sind aktuelle Fehler im ostdeutschen Erziehungssystem und an den verbliebenden Arbeitsplätzen abzustellen. Dies ist auch die Voraussetzung für zukünftige neue Arbeitsplätze.

 

 

Abbildung:  Zwei Sichtweisen zum Zusammenwachsen von Ost- und Westdeutschland

 

Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen werden noch geraume Zeit bestehen bleiben. Von den Ostdeutschen kann nicht einfach verlangt werden, daß sie sich in der Gegenwart mit einer Art Gehirnwäsche in Westdeutsche verwandeln. Das Zusammenwachsen wird in einer Zukunft stattfinden, in der sich die West- und auch die Ostdeutschen aus ihren gegenwärtigen Positionen heraus wandeln und dabei annähern (was nicht heißt, daß die Westdeutschen sich jetzt in Richtung Sozialismus bewegen müssten). Dies ist ein dynamischer Vorgang, bei der sich beide Seiten ändern, um den zukünftigen Herausforderungen des Lebens zu begegnen. Es wäre eine statische Sichtweise, wenn man erwarten würde, daß dieser Punkt des Zusammenwachsens einfach nur, bildlich dargestellt, irgendwo auf einer Geraden, die die jetzigen Ausgangspunkte verbindet, liegen wird.

Während dieses Zusammenwachsens kann nicht eine Seite der anderen einfach ihre gegenwärtigen Wertvorstellungen aufzwingen.

Gleichwohl muß für die nächste Zukunft eine Lösung gefunden werden, wie in Ostdeutschland ein Lebensstandard erreicht werden kann, der nicht dauerhaft durch Transferzahlungen aus dem Westen finanziert werden muß (s. Abschnitt 6.6).

Dieses Buch beginnt in Kapitel 4 mit einem Mosaik von Erfahrungen, die ich, oder verschiedene Freunde und Bekannte in Ostdeutschland gemacht hatten. Diese Form wurde gewählt, da es für die Westdeutschen häufig schwierig ist, ihre Irritation oder Befremdung zu ihren Erlebnissen in Ostdeutschland formulieren. Viele der im Alltag gemachten, bzw. wahrgenommenen Erfahrungen sagen alleinstehend für sich wenig aus. Natürlich können auch in Westdeutschland die wunderlichsten Alltagsbegegnungen gemacht werden. Erst die Gesamtheit dieser vielen kleinen Mosaiksteinchen ergibt ein Bild. Dazu gehört auch ein Erklärungshintergrund, mit dem die verschiedenen Mosaiksteinchen an die richtige Stelle gefügt werden sollen. Hierzu werden in Kapitel 7 einige Betrachtungen zum Leben im kommunistischen Sys­tem, aber auch zu theoretischen Grundlagen des Kommunismus und zu der Natur der menschlichen Wahrnehmung beigefügt.

In den Kapiteln 5 habe ich zunächst auf die aktuellen Fehler hingewiesen, die gegenwärtig den Prozeß der Wiedervereinigung und des Zusammenwachsens von Ost- und Westdeutschen schwer belasten. Diese Fehler verhindern einen effektiven Umbau der Wirtschaft und sie demonstrieren grobe Ungerechtigkeiten bei der Verteilung von Renten und Gehältern im öffentlichen Dienst und der gewerblichen Wirtschaft. In Kapitel 6 werden die für die nächste Zukunft erforderlichen neuen Ansätze diskutiert, um die Chance für wirtschaftlichen Erfolg und somit für einen Sozialstaat in Wohlstand zu wahren. Einige Vorschläge hierzu werden vorgestellt. Schließlich wird auch auf die reale Gefahr eines Bruches der neu erworbenen Einheit der Deutschen hingewiesen. 

Natürlich bin ich mir darüber klar, daß die Gefahr besteht, daß mit den nachfolgenden Ausführungen Vorurteile scheinbar nur be­stätigt werden könnten. Wie bereits angemerkt, habe ich mich um Wahrheit und eine faire Sicht bemüht. Das Buch ist aber sicherlich subjektiv und gibt nur meinen Erkenntnisstand von heute wieder. Dieser Erkenntnisstand wird sich mit der Zeit sicherlich weiterentwickeln, so wie auch Ost- und Westdeutsche sich morgen mit neuen Problemen auseinanderzusetzen haben. Die 'wissenschaftliche' Alternative könnte sein, Ostdeutsche und/oder Westdeutsche mit Fragebogen zu befragen. Derartige Fragebögen sind aber immer tendenziös und sollen vorgefertigte Ideen erfüllen, oder man kann auch sagen, Vorurteile bestätigen. Die Antworten spiegeln den vorgegebenen Trend und geben meistens eine Reaktion des Befragten auf die Fragen wieder. Die 'Wahrheit' kann hiermit kaum erlangt werden.

Es stellt sich in der Tat die Frage, ob es gerade in der Frage deutsch - deutscher Unterschiedlichkeiten 1997 eine objektive Wahrheit geben kann. Mir lag daran, ein persönliches Bild wieder zu geben und es würde mich freuen, wenn andere persönliche Bekenntnisse von West - und Ostdeutschen zu einem besseren Zusammenwachsen unseres Landes beitragen würden. Hierbei wären sicherlich auch ostdeutsche Autoren gefragt, die aus ihrer Sicht eine 'Annäherung' an die Westdeutschen darstellen würden. Das könnten dann aber wohl nur Ostdeutsche schreiben, die über längere Erfahrungen in Westdeutschland verfügen. So wie ich mit diesem Buch auch Ostdeutschen den Spiegel vorhalten möchte, nicht um sie zu beleidigen, sondern um zu kritischer Selbsterkenntnis als Voraussetzung zur Weiterentwicklung beizutragen, so würde ich auch denken, daß der von einem Ostdeutschen gehaltene Spiegel vielen Westdeutschen zur besseren Selbsterkenntnis verhelfen kann.

 


 

4      Erfahrungsmosaik und Erklärungsver­su­che

In unseren bisher mehr als drei Jahren in Ostdeutschland gab es eine Vielzahl von Ereignissen und menschlichen Kontakten, die manches Mal neu und irritierend waren.

Diese Erlebnisse hatten eine völlig andere Qualität als die bei den regionalen Unterschieden, die wir vor über 10 Jahren bei unserem Umzug aus dem Kölner Raum nach Bayern kennengelernt hatten. Wir waren sechseinhalb Jahre in Bayern. In dieser Zeit hatten wir deutliche Unterschiede in Lebensrythmus, Verhalten und bei traditionellen Festen kennen- und schätzen gelernt.

Mit dieser Erfahrung glaube ich schon, heute zwischen regionalen Eigenheiten der Preussen und Berliner und den Ausprägungen der Ostdeutschen, die aus dem Sozialismus stammen, unterscheiden zu kön­­nen.

Nachfolgend werden die Erfahrungen und meine Erklärungen hierfür in vier Hauptabschnitte gegliedert. Zunächst wird über das Verhalten von Ostdeutschen in verschiedenen Situationen berichtet. Die­ses zeigt noch häufig die im kollektiven Leben der DDR erlernten Gewohnheiten und Anpassungen. Die Identität beruht offenbar auf einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl, welches meiner Meinung nach das erlernte Klassenbewußtsein widerspiegelt. Hierbei spielt auch die Angst eine Rolle, aus dieser Klasse in die Rechtlosigkeit verstoßen werden zu können. Einige Erfahrungen mit der ostdeutschen Wirtschaft zeigen die anhaltenden Schwierigkeiten, die bei dem Versuch des Eintritts in die westliche Wettbewerbswirtschaft bestehen. Die im Sozialismus erlernten Werte sind noch allgegenwärtig. Hier besteht der größte Änderungsbedarf für eine erfolgversprechende Teil­nahme der Ostdeutschen am Aufbau des gemeinsamen, freien Europas.

 

4.1               Verhalten

4.1.1         Nullreaktion im Gesprächskreis

In Gruppenbesprechungen [4] wiederholen sich bestimmte Abläufe und Rituale, die den Westdeutschen in dieser Intensität fremd sind: Vorgesetzte geben Parolen aus, was in den nächsten Wochen zu tun ist. Der dabei sitzende Westdeutsche wundert sich hierbei manchmal über den unrealistischen Inhalt der gemachten Aussagen. Ein Beispiel hierzu ist: 'Wir haben in 6 Wochen die geplante Veranstaltung und jetzt gibt es keine Wochenenden mehr, jetzt wird bis dahin durchgearbeitet.' Ich hatte in einer derartigen Situation als einziger reagiert und gleichzeitig wahrgenommen, daß um mich herum mal wieder die Gesichter der Umsitzenden reglos waren und Null - Reaktion aufzeigten. Später habe ich kapiert, daß für jeden im Kreis klar war, daß es sich hierbei mal wieder um eine Propagandafloskel handelte. In jahrzehntelanger Übung hatte man derartige Rituale er­lernt. Tatsächlich wurde von den Vorsitzenden der Kollektive erwartet, daß derartige Aussagen gemacht wurden, der Vorsitzende wußte um diese Pflicht; ebenso klar war auch für alle Beteiligten, einschließlich dem Vorsitzenden, daß die ausgegebene Parole nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben kann.

Man hatte ebenso gelernt, daß propagierte Ziele und die spätere Wirklichkeit in der Regel nichts miteinander zu tun haben. Zu derartiger Propaganda gehörte auch das Verlangen nach zusätzlichen Überschichten. Wenn man sich dem Kollektivdruck nicht entziehen konnte, wurden diese tatsächlich durchgeführt, aber man hatte längst die Erfahrung gemacht, daß man hiervon persönlich nichts hatte und daß die Kleveren schon seit langer Zeit Wege gefunden hatten, um sich derartigen Zusatzdiensten auch entziehen zu können. Man war es gewohnt, für diverse Kampagnen zusätzlich antreten zu müssen. Dies wurde stets nur als lästig und unnütz empfunden. Mir sind persönlich einige Beispiele bekannt, daß Mitarbeiter noch vor kurzem gefragt hatten ob sie denn kommen ‘müßten’, nachdem sie über eine abendliche Konzertveranstaltung mit vorliegenden Freikarten informiert wur­den. In der DDR gab es viele Beispiele, daß Mitarbeiter zu Kulturveranstaltungen o. ä. beordert wurden und dort dann vollzählig angetreten waren. In Brigadebüchern, wie sie von Arbeitskollektiven geführt werden mußten, ist heute noch nachzulesen, daß bei derartigen kollektiven Veranstaltungen dann später im Brigadebuch ausführlich über die Anzahl der Schnitzel und die Länge des Wirtschaftsbesuches nach der Veranstaltung berichtet wurde. Hierbei wurden allerdings auch immer die Anwesenden namentlich aufgeführt, d. h. Nichtanwesenheit viel auf.

Reglose Aufnahme von Propaganda­sprüchen der Brigadeführer

 

4.1.2         Geheime Wahlen

Bei den politischen Wahlen in der DDR war für die Wahlpflichtigen Anwesenheit angesagt und die Ausübung ihres Wahlrechts bestand darin, den vorbereiteten Zettel zu falten und einzuwerfen. Abweichler, die möglicherweise Kandidaten der Einheitsliste durch­streichen wollten, fielen somit bereits auf, wenn sie sich an dem vorbereiteten Wahlzettel ‘zu schaffen machten’.

Meine persönlichen Erfahrungen zum heutigen Wahl­­verhalten in Ostdeutschland sind: Bei der Elternversammlung in der Schule meinte die Lehrerin, daß jetzt ja noch gewählt werden müsse. Frau Meier habe das ja so gut gemacht, daß ihre Wiederwahl nun in nicht geheimer Abstimmung erfolgen könne. Alle hoben den Arm. Frau Meier war wiedergewählt. Im anderen Falle wurden im Ortsverband einer politischen Partei die Kandidaten benannt. Der Ortsvorsitzende gab die Wahlvorschläge aus der Fraktion bekannt. Ohne weitere Diskussion wurde offen abgestimmt. Alle Vorschläge der Fraktion wurden bestätigt. Keiner tanzte aus der Reihe.

Ich behaupte von diesen beiden persönlichen Erfahrun­gen nicht, daß diese repräsentativen Charakter hätten. In beiden Fällen hat mich die mangelnde demokratische Kultur unangenehm berührt. Beide Male wurden die Wähler nur benutzt, um vorab gefällte Entscheidungen zu Posten oder zur Verwaltung der Macht nur noch zu bestätigen. Diskussionen oder anderes Querulantentum waren nicht erwünscht. Dies steht auch in bemerkenswertem Kontrast zu den sonst oftmals erlebten langatmigen Diskussionen, bei relativ unwichtigen Dingen.

 

4.1.3         Kollektivismus

Erziehung für ein Leben im Kollektiv

 
Im Buch 'Kollektiverziehung im Kindergarten', Verlag Volk und Wissen, Berlin 1962 findet sich auf Seite 11 das Zitat einer russischen Pädagogin 'Die Kinder müssen alles im Kollektiv erleben und auf Grund dieser kollektiven Erlebnisse lernen, gemeinsam zu fühlen....die Wünsche der Kameraden berücksichtigen und es verstehen, einander in allen Dingen zu helfen...'. Beachten sie bitte die Absolutheit dieser Forderung, die sich mit den Worten ‘alles’, ‘gemeinsam fühlen’ und ‘allen Dingen’ ausdrückt. Der ganztägige Aufenthalt im Kindergarten, wie auch später in der Schule, war wichtiges Element dieser Erziehung. Somit wurden die Kinder von frühesten Kindesbeinen an ganztägig in der Gruppe betreut. Hierbei dürfte es praktisch keine Gelegenheiten zu individuellen Erkundungstouren o. ä. gegeben haben. Diese Einbindung in eine, aus Sicht des Individuums, zufällig zusammengestellte Gruppe setzte sich auch später im Beruf, in der Brigade, fort.

Im Vergleich hierzu hatte ich in Westdeutschland eine völlig andere Kindheit, Jugend und Erwachsenenleben. Als Kind in der Großstadt [5] Dortmund hatte ich alle Nachmittage und Urlaubszeiten zu meiner Verfügung. Ich ging mit Bruder, Freunden oder auch alleine spontan zu meinen Lieblingsspielplätzen, in die Stadt zum Rolltreppenfahren ins Kaufhaus oder lange Wege zu den bevorzugten Freibädern. Hierbei hatte ich stets meine Freunde selbst gewählt und auch die Orte, an denen ich mich aufhalten wollte. Beaufsichtigungen durch Erwachsene gab es hierbei praktisch nicht. Dieses hohe Maß freier Selbstbestimmung mit eigenständiger Suche und meinen eigenen Entscheidungen zur Lebensgestaltung setzte sich in Jugend und Erwachsenenleben fort. Zu dieser Freiheit gehörte auch zeitweise ein gewisses Maß an Alleinsein.

Letztes Jahr hatte ich mich auf einem öffentlichen Fest der PDS lange mit einem älteren Ehepaar am PDS - Stand unterhalten. Die Dame, etwa 60 Jahre, erzählte mir, daß das schlimmste ihres Arbeitsplatzverlustes vor 2 Jahren der Verlust des Kollektivs und das plötzliche Alleinsein war. Aber heute ginge es ihr gut. Seitdem sie in der PDS aktiv ist 'habe sie mehr Bekannte [6] als je zuvor'. Wir hatten noch ein längeres angenehmes Gespräch über die heutige Situation in Ostdeutschland und über unsere beiden Welten. U. a. meinte ich dann, sie müsse doch nicht so sauer sein über die jetzigen politischen Verhältnisse, schließlich hätte die PDS enorme Wahlerfolge und wenn genug Ostdeutsche mit den neuen Verhältnissen nicht zufrieden seien, könnten sie ja PDS wählen und dann die gewünschte Politik realisieren. Daraufhin machte sie die aufschlußreiche Aussage 'aber dann drehen die in Bonn uns ja den Geldhahn ab' (!)

.... 'aber dann drehen die in Bonn uns ja den Geldhahn ab'

 
Der deutliche Unterschied in der Betonung des kollektiven Lebens in Ostdeutschland im Vergleich zum Individualismus in Westdeutschland führt auch zu den nachfolgend beschriebenen Verhaltensweisen, die West und Ost deutlich unterscheiden.

 

4.1.4         Team und Kollektiv

Im Arbeitsleben ist es sinnvoll, diesen Unterschied anhand der Begriffe 'Team' und 'Arbeitskollektiv' zu diskutieren.

Ein Team ist eine Gruppe von Individuen, die oftmals unterschiedliche Spezialisten auf ihrem Gebiet sein können. Jeder bringt sein Fachwissen ein und bezieht hieraus sein Selbstvertrauen. Moderne Teams werden meistens nur für eine begrenzte Zeit zusammengestellt. Der Leiter des Teams hat hauptsächlich moderierende Funktion. Er weiß, daß er nicht mit den einzelnen Spezialisten auf deren Fachgebiet konkurrieren kann. Dies ist ein, zugegebenermaßen, etwas idealisiertes Bild, aber es trifft die Zielvorstellung eines Teams.

Hierzu nun zum Vergleich das Bild des typischen Arbeitskollektivs: Die Mitglieder wurden seit frühes­tem Alter im Kindergarten erzogen, sich im Kollektiv unterzuordnen. Das eigene Selbstbewußtsein wird hauptsächlich aus der Akzeptanz in der Gruppe und insbesondere beim Leiter, weniger aus den eigenen Fachkenntnissen bezogen. Die Mitgliedschaft im Arbeitskollektiv ist langfristig angelegt und kann Jahrzehnte dauern. Die persönlichen Bindungen im Kollektiv, bzw. in der Arbeitsbrigade, sind intensiv. Es gibt viele Abend - und Wochenendveranstaltungen im Kollektiv. Die Vorgesetzten führen patriarchalisch. Fachliche Initiativen kommen vom Vorgesetzten. Dies wird gleichermaßen von den Mitarbeitern und vom Vorgesetzten so erwartet. Er leistet auch einen weitaus größeren Teil für die Ausführungen, wie der typische einzelne Mitarbeiter.

Weltsicht im Kollektiv: ‘Wir hier drinnen - die da draußen’

 
Ein spezielles Phänomen des Kollektivismus besteht offenbar darin, das die Mitglieder nur ihre kollektive Welt sehen. Bildlich ausgedrückt läßt sich dies darstellen mit einem Kreis, den alle Mitarbeiter durch zusammenstehen bilden und die nach innen zur Kreismitte hin ausgerichtet sind. Das Geschehen außerhalb des Kreises interessiert sie kaum, bzw. ist nicht ihre Welt. Mit diesem Bild lassen sich viele Verhaltensweisen und Ansichten von Ostdeutschen erklären. Ein Beispiel: Für DDR - Bürger war es stets ein verbreitetes Ärgernis, daß Waren gehobener Qualität nicht für den Inlandskonsum bereitgestellt wurden, sondern exportiert wurden. Das mit diesen Waren allerdings wichtige Devisen eingetauscht werden konnten, um damit unbedingt notwendige Auslandsprodukte zu kaufen, wurde kaum erkannt. Vor wenigen Tagen zeigte das Fernsehen einen vergleichbaren Fall: Fischer in Sibirien regten sich darüber auf, daß ein Großteil ihrer Beute von der Walrossjagd für Tierfellfarmen abgegeben werden mußte. Sie sahen hierin eine große Verschwendung von Fleisch der erlegten Walrösser im Vergleich zu der früheren Form der Selbstversorgung. So schön wie diese Aussagen im ersten Augenblick auch klangen, war doch im Fernsehen zu sehen, das der einzelne Fischer ein Brillengestell auf der Nase hatte und das Boot einen Außenbordmotor hatte. Hiermit war eigentlich klar, daß die Fischer auch Waren über ihren eigenen Verbrauch hinaus produzieren mußten, um sie gegen andere erwünschte Waren einzutauschen.

Ein ‘Team’ ist auf das Ziel ausgerichtet.

 

Die Arbeitsbrigade ist auf sich selbst ausgerichtet.

Die einfache Weltsicht 'wir hier drin' und 'die da draußen' scheint ein typisches Merkmal des Kollektivismus zu sein. Der im Westen, mehr individuell, erzogene Mensch neigt hingegen zu vielfachen Bindungen zu verschiedenen Gruppen, Vereinen, Interessensverbänden u. ä., wobei diese Bindungen auch brüchiger sein können.

 

4.1.5         Persönliches

Viele Westdeutsche in Ostdeutschland beklagen sich, und glauben bei Ostdeutschen verstärkt negative Gefühle wie Neid, Mißgunst usw. festzustellen. Dies gehört zu den Dingen, die in der ersten Zeit in Ostdeutschland bei Westdeutschen wohl die größten Irritationen hervorrufen. Als Beispiel hierzu erinnere ich mich, meine Arbeitskollegen kurz nach Antritt meiner neuen Stelle in Ostberlin eingeladen zu haben. Mein Ostchef (der mich nicht eingestellt hatte) signalisierte mir damals sehr deutlich, daß er es nicht in Ordnung findet, daß sein Mitarbeiter so viel Geld verdient, und damit, wenn er nach Berlin kommt, sich einfach ein Haus mieten kann. Einer meiner Mitarbeiter ging vom Garten ins Haus, zur Toilette. Als ich, um etwas zu holen, auch ins Haus ging, fand ich, daß er gerade dabei war, mein Arbeitszimmer zu inspizieren. Der Abend verlief, wie das wohl bei gemütlichem Beisammensein von Ostkollektiven mit anwesendem Chef üblich sein mag. Der Chef bestritt den Großteil der Unterhaltung und betrieb Selbstbeweihräucherung. Die Anderen saßen im Kreis um ihn herum (der Chef saß tatsächlich zentriert im Kreis, ich habe dies später wiederholt gesehen) und hingen an seinen Lippen; die meisten schwiegen weitestgehend.

Der Chef saß zentriert im Kreis

 

Der 1. Chef kommt ‘rein und der 2. Chef tritt zurück ins Glied

 

‘strahlender’ Chef und ‘graue’ Mitarbeiter

 
Bei einer Dienstreise nach Kasachstan hatte ich ein Erlebnis, daß gut zu diesem Thema paßt. Wir besuchten ein Kraftwerk an der sibirischen Grenze, um dort unsere Leistungen zur Modernisierung und Instandhaltung an Turbinen russischer Bauart zu präsentieren. Wir wurden von einer Gruppe von 7 Mitarbeitern empfangen. Das Gespräch wurde alleine vom Technischen Leiter, dem Ranghöchsten der Gruppe, bestritten.  Er wirkte jovial, selbstsicher und ließ in seinem Auftreten keinen Zweifel daran, daß er der wichtige Entscheidungsträger war. Die Anderen schwiegen. Sie wirkten im Vergleich zu dem Gesprächsführer unscheinbar und grau. Nach etwa einer halben Stunde ging die Tür auf. Der Kraftwerksleiter kam herein. Alle standen auf; er begrüßte uns, selbstsicher lächelnd (um Mißverständnisse zu vermeiden: ich meine nicht 'überheblich'). Er übernahm sofort das Gespräch und war danach unser einziger Gesprächspartner. Der Technische Leiter wandelte sich schlagartig. Es war, als wenn jemand die Luft aus ihm herausgelassen hätte. Er saß den Rest des Gesprächs wie die anderen im Gesprächskreis. Er schwieg und war unscheinbar und grau. Beim gemeinsamen Abendessen, nach dem dienstlichen Teil, wurden die einzelnen Teilnehmer dann offen, gesprächsbereit und 'farbig', d. h. zu unterschiedlichen Individuen.

Heute meine ich, daß die von Westdeutschen wahrgenommenen o. g. negativen Gefühle  wie Neid und Mißgunst vor allen Dingen aufgrund der besonderen Intensität der persönlichen Beziehungen im Kollektiv auftreten. Hierbei wird mißtrauisch beäugt, daß man in der Hierarchie nicht absinkt, wobei neu Hinzugekommene in erster Linie als neue Rivalen betrachtet werden. Gleichzeitig wird die Rangordnung im Kollektiv unbedingt beachtet. Unterschiede in Wohlstand, Lebensgefühl, Verhalten, Pünktlichkeit usw. werden deutlich weniger tolerant wie im Westen aufgenommen.

Aus der DDR und von Ostdeutschen wird immer berichtet, daß die persönlichen Beziehungen bei Ostdeutschen viel 'wärmer' als bei Westdeutschen gestaltet seien. Für das Zusammengehörigkeitsgefühl scheint dies nach wie vor zutreffend zu sein. Meines Wissens gibt es aber in den Beziehungen zwischen den Mitgliedern des Arbeitskollektives, bzw. der Arbeitsbrigade, einen deutlichen Unterschied gegenüber den privaten Beziehungen. In der Brigade verbrachte man sehr viel Zeit während und außerhalb der Arbeitszeit bei unzähligen Feiern, abendlichen Kulturveranstaltungen und politischen Versammlungen und Demonstrationen. In sein Haus und noch mehr in sein Wochenendhaus ('Datsche' von russisch, Datscha) läßt man hingegen nur enge Freunde oder Familienangehörige. Dies hat sicher damit zu tun, daß die Mitglieder eines Kollektivs sich gegenseitig nicht ausgesucht hatten und man nie wußte, wer von diesen als informeller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienst arbeitete. Außerdem verteidigten viele Ostdeutsche die kleinen Freiräume, die ihnen der Staat mit seinem ständigen Zugriff auf den größten Teil des Lebens gelassen hatte. Kollektives Beisammensein war Pflicht und brachte Punkte in der Kaderakte. Nach dieser richtete sich das Einkommen und die berufliche Entwicklung.

Die privaten Freiräume wurden verteidigt

 

Ein Gutteil des DDR - Lebens fand im Kollektiv- in der Arbeitsbrigade statt

 
Die persönlichen Beziehungen haben aufgrund der starken Rolle der Zugehörigkeit zum Arbeitskollektiv eine wesentlich andere Qualität, wie dies aus dem Leben im Westen bekannt ist. Viele Ostdeutsche haben z. Bsp. heute ein großes Problem damit, wenn sie mal kurzzeitig allein sind. Dies waren sie seit dem Kollektiv in der Kindertagesstätte nie.

Die nach der Wiedervereinigung allgemein zunehmen­de Kälte in den Beziehungen wird vielstimmig bedauert. Die Fähigkeit, dies aus Eigeninitiative durch das Treffen mit Gleichgesinnten zu verbessern, ist jedoch noch unterentwickelt. In das Kollektiv wurde man gerufen und auch für die Terminplanungen der Versammlungen usw. bedurfte es keinerlei Eigeninitiative.

 

4.1.6         Statistiken

Kürzlich gab es eine interessante Nachricht. Die Landesregierung Brandenburg hatte der bekannten Unternehmensberatung Roland Berger GmbH einen Auftrag erteilt, bei dem u. a. die Belegungsdichte der Gewerbegebiete im Land festgestellt werden sollte. Das Wirtschaftsministerium des Landes hatte bis dahin berichtet, daß diese Gewerbegebiete mit 80% ausgelastet seien. Roland Berger korrigierte in seinem Ergebnisbericht diese Zahl und wies nach, daß die Auslastung nur 40% betrug. - Schade, daß keiner mir diesen Auftrag gegeben hatte. Ich denke, eine Fahrt durch die Gewerbegebiete hätte ausgereicht, um festzustellen, ob diese fast voll oder weniger als halbvoll sind.

Die Wirklichkeit in der DDR - Statis­tik und die wirkliche Wirklichkeit

 
Wen derartiger Ergebnisse von ostdeutschen Behörden irritieren, der möge berücksichtigen, daß die Verschönerung von Statistiken in der DDR jahrzehntelange Tradition hatte. Jeder DDR - Bürger wußte, daß die in Zahlenwerten berichtete Wirklichkeit und die von ihm täglich erlebte wirkliche Wirklichkeit völlig unterschiedlich war. Um die Ursachen dieses Berichts-Unwesens zu verstehen, muß man wissen, daß Lehrer z. B. ihre Jahresendgratifikation (oder wie das auch immer hieß) 'leistungsabhängig' erhielten. Dies hieß, daß die Schüler einen guten Notendurchschnitt erreichen mußten, um die Leistung des Lehrers nachzuweisen. Es läßt sich leicht erahnen, was dies für Auswirkungen auf das Leistungsbewußtsein der Schüler hatte. In anderen Fällen erhielten Erzieherinnen in Krippen und Kindertagesstätten ihre Prämien, wenn der Krankenstand besonders niedrig war. Mir sind Aussagen von Erzieherinnen bekannt, daß damals ansteckende Krankheiten nicht den Eltern bekannt gemacht wurden und die Eltern auch nicht erfuhren, wenn die eigenen Kinder in den Kitas Antibiotika erhielten.

Im Südwesten von Berlin gibt es das Technologiegebiet Adlershof, in denen sich viele technologieorientierte Firmen und Institute der Ostberliner Humboldt Universität niedergelassen haben. Kürzlich war in der Berliner Zeitung zu lesen, daß dort demnächst bis zu 20000 Arbeitsplätze aus diesen hoffnungsvollen Technologiepflanzen entstehen sollen. Ich möchte die Prognose wagen, daß diese Hoffnungen in naher Zukunft zerbersten werden und an der prognostizierten Zahl zumindest eine Null gestrichen werden muß, soweit sich dies auf unsubventionierte aus eigener Wirtschaftskraft bestehende Arbeitsplätze bezieht.

Anfang 93 war ich ein halbes Jahr in einem Ostberliner Unternehmen tätig, welches in der DDR Instandhaltung und Komponentenbau an russischen Dampfturbinen für den DDR - Markt durchgeführt hatte. Dieses Unternehmen war von einem großen westeuropäischen Konzern übernommen worden. Meine Aufgabe war, die Serviceleistungen für Turbinen russischer Bauart nach Osteuropa zu verkaufen. Ich merkte bald, daß die Leistungen und die Kosten in Osteuropa nicht konkurrenzfähig waren. Trotzdem scheuten sich mein Ostchef und meine Mitarbeiter nicht, phantastische Prognosen über die in den nächsten Monaten zu erzielenden Verkaufserfolge in Osteuropa abzugeben.

Überlebens­künst­ler, die als letzte das Werksgelände verlassen wollen

Proklamierte Zukunft mit phantastischen Prognosen - an die keiner glaubt

 
Erst später verstand ich, daß es für sie ganz natürlich war, derartige Aussagen zu machen, ohne gemeinsame, ernsthafte Anstrengungen zu unternehmen, derartige Ziele auch zu erreichen. Hierbei möchte ich hinzufügen, daß die mit wenigen Westdeutschen besetzte Geschäftsleitung derartigen Unsinn auch einforderte. Mittlerweile haben sich diese Westmanager längst auf andere Jobs außerhalb Ostdeutschlands in Sicherheit gebracht und das Unternehmen wurde kürzlich mal wieder in seiner Restbelegschaft halbiert. Derartige Entwicklungen sind durchaus typisch für Industrieunternehmen in Ostdeutschland. Somit bildet sich in vielen Firmen ein Konzentrat von Überlebenskünstlern, deren Anstrengungen sich darauf beschränken, möglichst als letzte das Werksgelände verlassen zu müssen.

Um die Natur derartiger wirtschaftlicher Tätigkeiten zu verstehen, ist es auch wichtig zu wissen, daß das Grundstück dieses Ostberliner Unternehmens zuletzt einen Wert von bis zu einer Milliarde DM hatte. Das Maschinenbaugeschäft auf diesem Gelände war hingegen im besten Fall geeignet, um 10 Millionen DM pro Jahr zu erwirtschaften. Dieses Mißverhältnis führt zu dem Schluß, daß die neuen Besitzer doch wohl verstärktes Interesse daran haben dürften, das Werksgelände im Laufe weniger Jahre zu räumen, um die Immobilie gewinnbringend zu verkaufen. Dies ist einer der Fälle, bei denen eine Allianz von im Unternehmen verbliebenen Ostdeutschen, deren Tätigkeit auf Zeitgewinn und auf eine möglichst hohe Abfindung abzielt und Westdeutschen, die Gewinne mit Treuhandsubventionen und Immobilien erzielen wollen, in den letzten Jahren kooperiert hat. So werden Hunderte von Milliarden DM für den 'Aufbau Ost' verschwendet, ohne das wirkliche Fortschritte erzielt werden.

4.1.7         Beharrlichkeit

Schon nach kurzer Zeit in Ostdeutschland hatte ich vieles von dem festgestellten Verhalten der Ostdeutschen als ‘Beharrlichkeit’ bezeichnet. Gleichwohl ist es sehr schwierig dieses Phänomen zu beschreiben und in Worte zu kleiden. Einige Versuche hierzu:

...und muß nach einigen Wochen feststellen, daß sich gar nichts geändert hat.

Der Westchef erklärt seinen ostdeutschen Mitarbeitern, wo es in der nächsten Zeit hingehen soll und was hierfür zu tun ist. Die Mitarbeiter hören sich dies schweigend an. Wenn der Einzelne direkt angesprochen wird, scheinen seine Antworten zu zeigen, daß der Inhalt ‘rüber gekommen ist. Auch wenn in den nächsten Tagen zunächst einige Aktivitäten im besprochenen Sinne starten, so muß der Westvorgesetzte doch nach einigen Wochen feststellen, daß sich gar nichts getan hat und alles wieder so wie vorher verläuft.

Zur Beharrlichkeit gehört auch das Festhalten am gewohnten Verhalten im Arbeitsleben. Dies ist umso stärker, wenn noch die gleichen Leute wie zu DDR - Zeiten im Kollektiv zusammenarbeiten.

Gästen aus dem Westen fällt z. Bsp. im Ostberliner Hotel ein schlechter Service auf. Bei von mir durchgeführten mehrtägigen Lehrgängen erschien der Ho­tel­service nur sporadisch, stellte vereinbarte Getränke ab und verschwand danach. Zwischendurch war er sehr schwer auffindbar. Kellner im Nobelrestaurant stritten sich (im gedämpften Ton) in Anwesenheit der Gäste. Der Gast wurde bedient, aber die Beziehungen fanden innerhalb des Bedienungskollektivs und nicht zum Gast hin statt. Gepäckwagen blieben im Hotel im Hinterzimmer versteckt, damit die Gäste sie nicht irgendwo abstellen konnten (Ge­päckservice gab es sowieso nicht).

Viele Ostberliner kaufen beim Lebensmittelkauf nur sehr kleine Mengen ein. Die Folge hiervon kann nur sein, daß das tägliche Einkaufen die Regel ist. - Dies ist offenbar das Beibehalten einer Gewohnheit aus DDR - Zeiten. Damals gehörte der tägliche Einkaufsstreifzug zum Leben. Nur damit konnte erreicht werden, daß man kurzzeitig in den Auslagen auftauchende Artikel nicht verpaßte.

Zu den oben angeführten vergeblichen Bemühungen von Westvorgesetzten muß festgestellt werden, daß DDR - Bürger jahrzehntelang gelernt haben, Belehrungen[7] über sich ergehen zu lassen. Wie der Name schon sagt, war die Diskussion und die gegenseitige Abstimmung zur Vorgehensweise hierbei kein wesentliches Element. Die Ostdeutschen hatten gelernt, die Belehrungsinhalte ohne äußere Regung, d. h. ohne ablehnende Reaktionen entgegen zu nehmen, um sich dann später stillschweigend zu widersetzen. Sie haben auch eine hohe Perfektion entwickelt, sich hierbei später nicht greifen zu lassen. Wenn Westvorgesetzte merkten, daß nichts geschah, und dann in die beabsichtigte Richtung Druck ausübten, bewegten sich ihre Ostmitarbeiter, um dann nach einiger Zeit sofort wieder in altes Fahrwasser zurückzufallen.

Die Beharrlichkeit erscheint in schweren Fällen regelrecht als Ignoranz. So kann der Westdeutsche nicht verstehen, wieso eine Verhaltensänderung im be­ruflichen Bereich auch dann nicht stattfindet, wenn dies offensichtlich im Zustand existentieller Gefährdung der Firma stattfindet. Ich hatte dies in meiner Zeit im ostdeutschen Maschinenbauunternehmen fest­stellen müssen. Auch in den genannten Hotels war allein schon am Fehlen der Instandhaltungsaufwendungen zu sehen, daß ihnen nur noch wenige Jahre bis zur Schließung verblieben. In allen Fällen war dies auch bei den Ostbelegschaften bekannt. Obgleich es hohe kollektive Bindungen zwischen den Kollegen gab, gab es doch keine entscheidenen Verhaltensänderungen und scheinbar keinen echten Willen zum Überleben. - Um dieses zu verstehen muß man sich nochmals in Erinnerung rufen, daß die DDR - Bürger Jahrzehnte des Niedergangs und der enttäuschten Erwartungen erlebt haben. Die Fähigkeit, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken, ist völlig unterentwickelt. Gottvertrauen ist nicht existent.

Ein wichtiger Punkt liegt auch darin, daß viele Ostdeutsche einfach die ständigen Veränderungen satt sind. Sie haben Jahrzehnte in einem weitgehend statischen System verbracht. In diesem durften sie meckern und hatten sich an die Unfreiheit gewöhnt. In den Köpfen herrschte Gleichgewicht. Es gab viel Zeit, um kleine Veränderungen zu verarbeiten, existentielle Bedrohungen gab es keine. Seit der Wende gab es dramatische Änderungen. Alte Werte sollten plötzlich wertlos sein und neue Werte waren fremd und suspekt. Die Ablehnung gegen immer neue Veränderungen nahm zu und es gibt eine weitverbreitete Sehnsucht, daß endlich wieder Ruhe einzieht. Die Köpfe möchten endlich wieder ins Gleichgewicht kommen.

Starkes Bedürfnis nach ‘Ruhe im Kopf’’

Bei derartigen Überlegungen fällt mir auf, daß ich mich längst an ständige Veränderungen gewöhnt habe. Seit vielen Jahren war es immer wieder so, daß nach 3 - 4 Jahren die Unruhe stärker wurde, um wieder eine Änderung herbeizuführen. Mir ist klar, daß ich hiermit nicht repräsentativ bin. In Westdeutschland gibt es eine Mehrheit, die seit Jahrzehnten im gleichen Ort wohnt und für die solche Entscheidungen wie Arbeitgeber und Hausbau noch oft Lebensentscheidungen bedeuten. Dies sind die normalen Westdeutschen und sie sind den normalen Ost­deutschen wohl ähnlicher als ich ihnen bin. Ich hatte das Glück, in einer toleranten, pluralistischen Gesellschaft aufzuwachsen und bin der festen Meinung, daß eine moderne Gesellschaft sowohl Wandervögel wie mich, als auch bodenständige, ortsfeste Bürger braucht.

Mir ist klar, daß von den meisten Ostdeutschen die Veränderungen als unangenehm und über­fordernd empfunden werden. Es stellt sich dann aber die Frage, wie ohne diese Änderungen der heutige Lebensstandard aufrecht erhalten werden kann.

 

4.1.8         Ich geh’ meilenweit für eine ------

Während der Camel - Werbemann angeblich für sei­ne Glimmstengel meilenweit geht, investieren auch viele Ostdeutsche gerne viel Zeit für die ‘guten’ Sachen. Offenbar wirkt hier ein Verhalten und Wertgefüge nach, wie es im Umgang mit den meistens schlechten Produkten in der sozialistischen Wirtschaft erworben wurde.

Zwei Fälle aus Berlin 1996: Im Arbeitskollektiv besteht Einigkeit bei den Kollegen, daß es die besten ‘Broiler’ (Grillhähnchen) bei einer bestimmten Grill­bude am Alexanderplatz gibt. Für die einfache Strecke bis zu diesem Platz benötigen die betroffenen Kollegen ca. ½ Std.  Im Gespräch wird klar, daß es bei mehreren Kollegen üblich ist, zum Alexanderplatz zu fahren, Parkplatz zu suchen, sich an der Grillbude in die Schlange zu stellen, einzukaufen, zurückzufahren und dann im Familienkreis das Hähnchenessen zu zelebrieren. - Für die richtig guten Sachen wird eben kein Aufwand gescheut.

Fall Zwei: Beim Stadtteilfest stehen mehrere Würstchenbuden. Bei einer Würstchenbude hat sich eine zirka 10 bis 15 m lange Schlange gebildet. Bei den anderen Würstchenbuden steht niemand. Nebenan steht ein Bierstand der hiesigen Brauerei. Auch dort eine 10 m Schlange. Aus einem einzigen Bierhahn wird von einem Brauereimitarbeiter mit einem Tempo gezapft, das verrät, daß er kein persönliches Interesse am Umsatz hat. 

Schlange stehen für die ‘guten Sachen’

 
Derartige Ereignisse finden häufig und bei vielen Gelegenheiten statt. Es finden sich immer viele, die sich eine Gelegenheit zum Schlange stehen ungern entgehen lassen.

Auch im Westen ist die verkaufsfördernde Wirkung einer Menschenansammlung an einem Verkaufsstand bekannt. In Ostdeutschland hat dies aber eine besondere Qualität. Vielleicht hat das Kollektiverlebnis ‘Schlange stehen’ etwas mit den ‘guten alten Zeiten’ zu tun. Auf jeden Fall ist das aus der Mangelwirtschaft stammende Bemühen größer, beim Einkaufen die “guten Sachen” zu erwischen. Das Mißverhältnis zwischen dem Zeitaufwand und dem Nutzen, speziell beim Hähnchen kaufen, kann nur mit den DDR - Verhältnissen erklärt werden. Damals war die Eintönigkeit und schlechte Qualität der Massenprodukte der Anlaß, um große Mühen für den Einkauf aufzuwenden. Nur damit konnten Produkte erhalten werden, die sich, wenn auch nur gering, in Qualität und Ausführung abhoben.

 

 

4.2               Identität

4.2.1         Ost - Stolz

Ein wichtiges Element des gegenwärtigen Identitätsgefühls vieler Ostdeutschen kann mit dem Wort 'Ost-Stolz' bezeichnet werden. Dies beinhaltet ein kompliziertes Gemisch aus Emotionen, Verletztheiten, und Zugehörigkeitsgefühl. Die Ostdeutschen glauben, von anderen, namentlich Westdeutschen, als Deutsche zweiter Klasse eingestuft zu werden. Es mag sie auch verletzen, daß ihre anderen ehemals sozialistischen Nachbarvölker ihnen unterstellen, sich in das gemachte Bett der reichen Westdeutschen gelegt zu haben. Hinzu kommt die Erkenntnis, gegenüber den Westdeutschen noch viele Defizite in der neuen Gesellschaftsform zu haben und bis auf weiteres noch auf den Erhalt von finanzieller Unterstützung aus dem Westen angewiesen zu sein. Die natürliche Reaktion ist die Aussage 'es kann nicht alles schlecht gewesen sein' und die Suche nach den verbliebenen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte.

Suche nach verlorenem Selbstwert­gefühl

 
Diese Suche nach verlorenem Selbstwertgefühl treibt teilweise skurrile Blüten. Hierzu einige mir bekannte Beispiele: Ein ehemaliger technischer Leiter des Kraftwerksbaus erzählte mir im privaten Gespräch, daß sie auf seinem Fachgebiet in der DDR ja 20 Jahre weiter gewesen wären als der Westen; dieses mit dem Hinweis darauf, daß die Westingenieure die russische Literatur zum Fachgebiet ja gar nicht kennen würden. Ein Veterinärwissenschaftler machte bei einer anderen Gelegenheit eine ähnliche Bemerkung; daß sie in der DDR ja mindestens zehn Jahre weiterentwickelt in Forschung und Anwendung waren. Derartige Aussagen werden gemacht, ohne daß dieses 'weiter' definiert würde und ohne auf diesen offensichtlichen Widerspruch zu den mangelnden Erfolgen der Ostwirtschaft einzugehen. Offenbar haben diese ehemaligen Leiter die eigene Propaganda so oft wiederholt (wobei sie auch niemals Widerspruch be­ka­men), bis sie es am Ende selbst geglaubt haben.

...'unsere Leute hatten ja nicht das Geld, um die Straßen instandzuhalten'

 
Bei einer anderen Gelegenheit wies ich in einem privaten Gespräch darauf hin, daß doch der baufällige Zustand von Straßen und Häusern aufzeigt, daß das sozialistische Regime nicht in der Lage war, die Bedürfnisse der Bürger zu erfüllen und Wohlstand zu erhalten. Meine Bemerkung wurde vom Gesprächspartner erwidert mit 'unsere Leute hatten ja nicht das Geld, um die Straßen instandzuhalten' [8].

Wenn Unzulänglichkeiten des ostdeutschen Schulsystems von mir angesprochen wurden, wurde im Gespräch behauptet, das Ostberliner Schüler in den Sprachfächern wohl schwächer seien als Westberliner, aber dafür in den mathematischen und technischen Fächern deutlich besser seien. Derartige Behauptungen werden gerade von Intellektuellen benutzt. Sie werden so lange wiederholt, bis sie als wahr gelten. Überhaupt wurde mir bei diesem Gespräch von einem Wortführer widersprochen, daß es Schwächen in den Ostberliner Schulen gäbe. Im nächsten Satz erwähnte er dann jedoch, daß seine Kinder in Westberlin aufs Gymnasium gehen (und dort natürlich die Besten sind).

Mein Erklärungsversuch für diese Ansichten beruht auf der Feststellung, daß im Marxismus - Leninismus - Unterricht (s. Abschnitt 7.2.1) immer wieder verkündet wur­de, daß die sozialistische Philosophie wissenschaftlich sei und alle im sozialistischen Staat gelehrten Wissenschaften somit ebenfalls besonders wissenschaftlich und fortschrittlich sind. Aus dieser Art der proklamierten Wissenschaftlichkeit entsprang eine Praxis der angewandten Wissenschaft, die für Westmaßstäbe einige Merkwürdigkeiten aufzeigt.

Je komplexer, je wissenschaftlicher...

 

Je komplexer, je wissenschaftlicher ...

 
Mir sind eine Reihe von Vorträgen und Veröffentlichungen von ostdeutschen Ingenieuren aus dem Hoch­schulbereich bekannt, bei denen stets großflächige komplizierte Schaubilder mit vielfältigen, vernetzten Wechselwirkungen dargestellt werden. In derartigen Ausführungen erweist sich die Wissenschaftlichkeit darin, daß die Komplexität der Wechselwirkungen analysiert wird, ohne daß ein ernsthafter Versuch gemacht werden kann, mittels Synthese zu realisierbaren Lösungen zu gelangen. Je komplizierter die Darstellungen sind, je wissenschaftlicher ist offenbar ihr Inhalt. Zu Lösungen und Anwendungen braucht es dann scheinbar nicht zu kommen. Vielleicht liegt die Erklärung für derartige Ansätze auch wieder in der Lehre des dialektischen Materialismus. Dort finden sich Aussagen, daß die wissenschaftliche Erkenntnisfähigkeit des Menschen in der realen Welt unendlich sei. - Ich sah immer in der Unendlichkeit von Raum und Zeit den Hinweis auf die Begrenztheit des menschlichen Erfassungsvermögens und bin der Meinung, daß dies Gott vorbehalten ist. Die sozialistischen Materialisten schrieben hingegen, daß es für die Erkenntnisfähigkeit des Menschen keine Grenzen gäbe. Möglicherweise besteht ein wichtiger Unterschied zwischen der Wissenschaft in West und Ost in der pragmatischen Suche nach realisierbaren Lösungen einerseits und dem dogmatisch vorgegeben Stochern in unlösbaren Zusammenhängen, bzw. an der Grenze zur Unendlichkeit, andererseits.

Von einigen jungen Ostdeutschen kann man heute Aussagen hören, wie 'unsere Leute haben sich mit Jakobs - Kaffee kaufen lassen'. Sie werfen dies 'ihren Leuten' vor und erzählen im gleichem Atemzug von ihrem nächsten geplanten Spanienurlaub. Derartige unreflektierte und widersprüchliche Denk - Schemata sind typisch für viele Aussprüche und Sichtweisen.

‘Palast der Republik’ an gemeinnützige Initiative?

 
Eine erwähnenswerte Rolle zum Thema Oststolz spielt die gegenwärtige Diskussion zu einem möglichen Abriß des Palastes der Republik. In diesem Bau konzentriert sich ein ostdeutsches, oder zumindest Ostberliner Identitätsgefühl. Viele heute 50 jährige Ostberliner haben in diesem Palast viele Feiern erlebt. Sie verbinden hiermit Erinnerungen aus jungen (und stolzen) Jahren. Meines Erachtens wäre es sehr unsensibel, derartige Gefühle zu ignorieren und den betroffenen Ostberlinern heute 'das Herz `rauszureißen' indem dieser Bau abgerissen wird. Es wäre, wie ich finde, besser, wenn die Stadt Berlin eine Ausschreibung machen würde und die Nutzung für eine gemeinnützige Initiative anbietet. Diese sollte sich dann aber aus Spenden von denjenigen finanzieren, die diesen Palast unbedingt erhalten wollen. Das wäre auch ein interessanter Prüfstein, ob die finanzielle Solidarität genauso ausgeprägt ist, wie das ostdeutsche 'Wir - Gefühl'. Wenn sich eine derartige Initiative findet, ist es gut und wenn nicht, dann kann er immer noch anders genutzt oder abgerissen werden.

 

4.2.2         Ost - Legenden

Zur Identität der Ostdeutschen gehören gegenwärtig auch eine Reihe von Ost - Legenden. Sie drücken bestimmte Halbwahrheiten aus, die ihre Beziehungen zu den Westdeutschen kennzeichnen. Zumindest einen der nachfolgend aufgeführten Sprüche höre ich in fast jedem Gespräch, das ich mit einem oder mehreren Ostdeutschen führe. Wenn mehrere beisammen sind, dann pflegen sie sich diese 'Ost-Legenden' gegenseitig zu bestätigen, so daß kein Zweifel am Wahrheitsgehalt des Gesagten sein kann. Es wäre auch müßig, dies dann etwa diskutieren zu wollen.

4.2.2.1     Abzocker

Das Modewort der letzten 1 bis 2 Jahre in Ostdeutschland ist nach meiner Beobachtung das Wort 'Abzocken' oder 'Abzocker'. Kaum ein Ostdeutscher hat es sich nehmen lassen, in Gesprächen bei allen möglichen Gelegenheiten irgendwelche Wessis zu erwähnen, die ihn oder allgemein den Osten 'abzocken' wollen. Dieses Wort wurde generell eingesetzt, um eine Abgrenzung gegenüber aktiven Westdeutschen herzustellen. Der Verdacht liegt nahe, daß es sich um eine moderne Version des Wortes 'Klassenfeind' handelt.

Manche Ostdeutsche wären selber gerne ‘Abzocker’

Manchmal erscheint es auch so, als wenn es einige Ostdeutsche gäbe, die selber gerne 'Abzocker' wären, bzw. die Westler um ihre vermuteten Fähigkeiten auf diesem Gebiet beneiden. Im Gespräch erzählte mir ein selbständiger Kleinunternehmer, daß er einen Partner aus Westdeutschland hatte. Er hätte diesen aber ausbooten müssen, da der, wie alle Wessis, versucht hätte (oder - haben würde) ihn abzuzocken. Ich hatte dies nicht kommentiert, aber bei dem Gesagten meinte ich doch rauszuhören, daß unser wackerer Ossi sich eventuell mit einem 'präventiven Verteidigungsschlag' gegen mögliche zukünftige Abzockerei des Wessis 'gewehrt' hatte.

4.2.2.2     Improvisierer

'Wir haben gelernt zu improvisieren. Die Wessis können nur wegschmeißen'

Mit diesem Satz wird begründet, daß die Ostdeutschen die besseren Handwerker seien und wohl auch kreativer als die westlichen Wegschmeißer.

Bei den improvisierenden Osthandwerkern handelt es sich in nicht wenigen Fällen um immerhin mit 80% des Westlohnes bezahlten Leuten, die in stundenlangen Aktionen (wie früher) mit umständlichen Basteleien Probleme lösen, für die ihre Westkollegen vielleicht nur einen Bruchteil der Zeit benötigen. Hierzu gehört auch, daß die richtigen Klein - und Ersatzteile nicht vorab besorgt wurden, sondern in Einzeleinkaufsaktionen während den Arbeiten geholt werden müssen.

Hoch­spezialisierte Rollenteilung im DDR - Berufsleben

 
Nach meiner Erfahrung gab es in der DDR eine hoch­spezialisierte Rollenteilung. Diese scheint häufig immer noch zu bestehen. Kürzlich hatte ich einen Kurzlehrgang organisiert und in einem Hotel in sehr guter Lage in Berlin - Mitte durchgeführt. Dort mußte extra jemand im Blaumann aus der Haustechnik gerufen werden, um einen Diaprojektor hinzustellen und einen Stecker einzustöpseln. Die gästebetreuenden Hotelangestellten waren für derartige tech­nische Aufgaben nicht zuständig. In einem anderen Fall ruft ein Hausmeister den Installateur, um eine Rohrschelle für ein Rohr anzudübeln. Auch in anderen Beispielen im Baubereich werden spezialisierte Einzelhandwerker nacheinander geholt, um kleine Arbeitsgänge auszuführen. Im Westen findet man häufig den universellen Handwerker, der mehrere verschiedene Arbeiten selbständig durchführt und somit kein Zusatzpersonal gerufen werden muß.

Auch die ‘Do it yourself’ - Heimwerker sind im Westen die Regel. Viele Häuser, gerade im ländlichen Bereich, wurden in Eigenleistung errichtet. Hierbei hat das handwerkliche Niveau oftmals eine bemerkenswerte Höhe.

Bei den Improvisierern im Osten gibt es hingegen viele Beispiele mangelnder handwerklicher Tiefe. In einem mir bekannten Beispiel wurden im beruflichen Bereich als Dauerlösung Rohre mit Stricken an der Wand befestigt, da die Rohrhalterungen nicht mehr einwandfrei waren.

Die Ostdeutschen sprechen von ihrer angenommenen Überlegenheit beim Improvisieren vermutlich aufgrund ihres Westbildes, welches Sie aus Fernsehfilmen beziehen. In diesen überwiegen großbürgerliche Verhältnisse, bei denen die von Künstlern geschriebene und gespielte Welt herzlich wenig mit den wahren Lebensverhältnissen der Mehrheit in Westdeutsch­land zu tun hat.

Innovations­fähigkeit als Ost - Eigenschaft?

 
Neuerdings wird im Wirtschaftsteil der Ostzeitungen auch dauernd über die vielen innovativen, erfolgreichen kleinen Firmen berichtet. Hierbei entsteht der Eindruck, daß Innovation auch eine ausgesprochene Ostfähigkeit sei. (Das muß mit dem Glauben an die früher propagierte Wissenschaftlichkeit zusammen hängen.) Wenn derart innovative Firmen dann nach Ablauf der finanziellen Fördermittel pleite gehen, dann liegt dies nur an unfairen Methoden der monopolistischen West - Konkurrenz  und ungerechtem man­gelndem Kapitalpolster der Firmen. Ein Beispiel ist ein sächsischer Kühlschrank - Hersteller, von dem vor 3 Jahren berichtet wurde, daß er den ersten FCKW - freien Kühlschrank entwickelt habe. Im April 96 meldete die Firma Konkurs an und es wurde in diesem Zusammenhang von unfairen marktbeherrschenden Methoden der Westkonkurrenz berichtet. Im Fernsehbericht zu diesem Thema war allerdings zu sehen, in welchem völlig unzulänglichen Zustand der Produktionsbetrieb war, der mit ebenfalls gezeigten hochmodernen und durchrationalisierten West­firmen konkurrieren wollte.

4.2.2.3     Wessis im Osten

'Alle die vom Westen ‘rüberkommen, kommen nur, weil sie es drüben zu nichts gebracht haben'

Dieser Satz betont den mangelnden Kooperationswillen mit Westdeutschen. Er beruht auf persönlichen Erfahrungen der Ostdeutschen, die meistens durch lange Konstanz in beruflicher Tätigkeit und bei dem Wohnort geprägt war. Motive von Westdeutschen, freiwillig nach Ostdeutschland zu kommen, wie Neugier oder auch ein gewisses Abenteurertum, sind den meisten Ostdeutschen ebenso unbekannt wie suspekt.

Dies erinnert mich an eine Diskussion, die ich vor vielen Jahren mit einem Freund hatte. Ich meinte damals, daß die USA - Bürger auch heute noch viele positive Eigenschaften hätten, da sie eine Tradition von ihren Ureltern geerbt hätten, die vor vielen Jahrzehnten aus Pioniergeist und Freiheitsdrang Europa verlassen hatten, um nach einer besseren Zukunft in der neuen Welt zu suchen. Mein Freund meinte hingegen, daß diese Leute damals eine Negativauslese gewesen wären, da doch nur die gegangen seien, die es in Europa zu Nichts gebracht hatten. [9]

4.2.2.4     Bürokratie

‘Die Bürokratie ist heute schlimmer als zu Ostzeiten!’

Ein gerngehörter Satz in Ostdeutschland. Tatsächlich ist mir aus vielen Erzählungen bekannt, wie früher der Amtsschimmel galoppierte. Es wurden mit viel Aufwand ständig Statistiken und Berichte in Betrieben geführt, in denen ebenso regelmäßig die gleichen getürkten Zahlen eingetragen wurden. Natürlich wußten die Betroffenen, daß die Darstellungen geschönt waren, aber sie hätten es doch als völlig unverständliche Provokation aufgefaßt, plötzlich die Wirklichkeit so darzustellen, wie sie war. Es existierte halt eine Wirklichkeit in der Statistik und eine andere (wirkliche) Wirklichkeit.

Die Behauptung, daß die Bürokratie heute schlimmer sei als zu Ostzeiten, bezieht sich auf etwas völlig anderes. Tatsächlich wird hierbei beklagt, daß man sich heute selber um die Erfüllung der Anforderungen der Bürokratie kümmern muß. Im alten System hatte man getan, was einem gesagt wurde, um die Bürokratie zu befriedigen. Dies dann übrigens auch immer während der Arbeitszeit. Heute muß man selbst erfragen, was zu tun ist, um nicht Gefahr zu laufen, gegen Vorschriften zu verstoßen, oder möglicherweise zustehende Ansprüche auf Wohngeld, Kindergeld usw. zu verlieren. Das heißt, die Bürokratie ist insoweit schlimmer geworden, als das jetzt ernsthafte Konsequenzen für den Einzelnen eintreten, wenn er hierbei Fehler macht. In der Vergangenheit waren derartige Fehler und Schwindeleien die Regel.

Hinzu kommt natürlich auch, daß es seit der Wiedervereinigung für die Ostdeutschen sehr viele Änderungen und erforderliche Neuanmeldungen gab, d. h., daß sie in den letzten Jahren viel mehr Gänge zum Amt hatten, als der Durchschnitts - Westdeutsche.

 

4.2.3         Politische Parteien

Die Parteien haben in Ostdeutschland durchweg ein ausgeprägtes Ost - Profil, d. h. sie haben wenig Ähnlichkeit mit ihren westdeutschen Pendants. In den Beziehungen zum Westen wird das Trennende betont. Es gibt keine positive Aufbruchstimmung, keinen Willen, die Zukunft zu gestalten. Veröffentlichte Aussagen von Ostpolitikern zur näheren Zukunft beschränken sich eigentlich auf die Forderung, daß der West - Ost Geldtransfer nicht gekürzt werden darf. Dies ist dann auch sicher das Hauptinteresse vieler Ostdeutscher am Westen.

Einigkeit herrscht bei der weitverbreiteten Neigung zu regulierenden Eingriffen in die Wirtschaft. Von allen Parteien werden laute Forderungen genannt, um die restlichen bestehenden Arbeitsplätze in den alten, heute noch bestehenden DDR-Unternehmen bis zum St. Nimmerleins - Tag zu subventionieren. Von Ban­ken und Investoren wird Engagement verlangt. Die Vor­stellung, daß dies nur stattfinden kann, wenn Ge­winne erwirtschaftet werden, wird mehrheitlich als kapitalistisches Profitstreben abgelehnt.

Solidarität auch aus Angst, aus der bestimmenden Klasse verstoßen zu werden

 
Der Hauptgrund der starken Ost - Identität der politischen Parteien liegt meines Erachtens darin, daß ein langjährig erlerntes Klassenbewußtsein vorliegt. So wie es für viele DDR Bürger ein traumatisches Erlebnis war, mit dem Verlust des Arbeitsplatzes auch daß tägliche Zusammensein in der Arbeitsbrigade zu verlieren, so liegt eine weitverbreitete Angst vor, bei Kritik der eigenen Gesellschaft und Werte ausgestoßen zu werden und plötzlich im Lager des Klassenfeindes zu landen. In den vergangenen Jahrzehnten gab es Gemeinschaftsgefühl und Solidarität nur innerhalb der Klasse der Werktätigen. Außenstehende waren Feinde. Sie durften u. a. enteignet werden, oder/und bespitzelt und denunziert werden und sie hatten kein Recht auf freie Berufswahl und -aus­übung. Wenn sie sich wehrten, wurden sie verfolgt und eingesperrt.

Die Philosophie des Marxismus - Leninismus, in der die Gegensätze negiert werden, lebt nach wie vor. Die hierbei entstandenen Schwarz - Weiß Kategorien werden beibehalten. Der Grund ist Bequemlichkeit, aber auch eine Überforderung durch die dramatischen Änderungen der letzten Jahre. Es ist noch ein weiter Weg, bis aus gegensätzlichen Thesen und Antithesen aus den verschiedenen Welten neue Synthesen (zur Erklärung für diese Wortwahl siehe Abschnitt 7.2.2) geschaffen werden können und hieraus neue Zukunftsperspektiven entwickelt werden.

 

 

4.2.4         Kultur und Sport

Als Leser der Berliner Zeitung fiel mir der Umfang auf, den die Zeitung dem Kulturteil einräumt. Kettmann und Wiesmach beschrieben bereits in ihrem DDR - Reisebuch, das die Berliner Zeitung damals zu einem Großteil aus ihrem Kulturteil bestand. So hatte ich bei der morgendlichen Lektüre erstaunt wahrgenommen, wie über längere Zeit hinweg über den Tod des bekannten Dramatikers Heiner Müller Artikel und Leserreaktionen veröffentlicht wurden, die geradezu an Heiligenverehrung grenzten. Ähnliche Aufmerksamkeit erhalten auch andere aktuelle Wortführer aus Kultur und Journalismus aus Ostberlin.

Kürzlich hatte ich in einem Gespräch mit älteren Ostberliner Bürgern meine Verwunderung über diese starke Betonung der Kultur kundgetan. Dies wurde empört zurückgewiesen. Schließlich seien die kulturellen Errungenschaften besonders wertvoll und die große öffentliche Aufmerksamkeit zeigt den hohe Entwicklungsstand des allgemeinen Bewußtseins (wörtlich klang das etwas anders, aber die Aussage war die Gleiche). Mir wurde schnell klar, daß ich mit meinen Fragen und lästerlichen Bemerkungen eben nur der Kulturbanause aus dem Westen war.

Die Betonung des kulturellen Lebens beruht zunächst auf der hohen Aufmerksamkeit, die bereits die sozialistischen Vordenker der Kunst eingeräumt hatten. Natürlich war hiermit nur diejenige Kunst gemeint, die von den Herrschenden im Sozialismus toleriert und gefördert wurde. Es konnte demnach keine wahre Kunst geben, die den Sozialismus und seine Lehre in Frage gestellt hätte.

In Kultur und Sport konnte der Einzelne Veränderun-gen bewirken

 
Trotzdem waren die Kultur und der Sport für die Bürger der DDR die einzigen Bereiche, die sich während der vergangenen Jahrzehnte von der allgemeinen Erstarrung und dem wirtschaftlichen Niedergang unterschieden. Obwohl die Herrschenden Einfluß auf die erlaubte Kultur nahmen, war es doch für die Bevölkerung möglich, mit ihren Füßen abzustimmen und innerhalb der erlaubten Grenzen, ihre bevorzugten Kunstrichtungen durchzusetzen. Hiermit wurden u. a. der erwähnte Heiner Müller oder der halbkritische Schriftsteller Stefan Heym populär. Insbesondere bei der vom Regime zunächst unerwünschten Rockmusik konnte die Jugend sich durchsetzen und somit ein Hauch von Freiheit erkämpfen [10]. So konnten in den 80iger Jahren auch Westkünstler, die viele Fans in der DDR hatten, wie Peter Maffay, Udo Lindenberg oder die Kölner Rockband BAP in der DDR auftreten. Dies allerdings auch nur mit Einschränkungen und oftmals vor ausgesuchtem FDJ - Publikum.

Zu den erkämpften kleinen Freiheiten gehörte auch das gewaltige Anwachsen der FKK - Kultur an den Ostseebadestränden. Obwohl die sozialistischen Machthaber sich in den 60iger Jahren eher durch Prüderie hervortaten, hatten sie doch das Anwachsen der Nacktbadekultur seit Anfang der 70er Jahre zu tolerieren. Dies war wohl das Erfolgsgeheimnis für eine breite Bewegung, die dazu führte, daß schließlich 1990 kaum mehr Badestrände für textilbekleidete Badende an der Ostsee verfügbar waren.

Alle diese erwähnten, vom Volk gegen die Regierenden erkämpften Errungenschaften sind den Ostdeutschen auch heute noch besonders wertvoll und machen einen guten Teil der ostdeutschen Identität aus.

Zum Ostseebadestrand möchte ich noch anmerken, daß ich mit meiner Familie vor drei Jahren auf der Halbinsel Darß einen Campingurlaub verbrachte. Wir hatten nach etwa einer Woche überrascht festgestellt, daß wir schließlich in der mittäglichen Hitze am Strand häufig die im näheren Umkreis einzigen mit Badesachen Bekleideten waren. Ich möchte hierbei betonen, daß wir von unseren Strandnachbarn niemals kritische Bemerkungen oder negative Signale aufgrund unseres Außenseitertums empfingen. Derartige Toleranz ist eigentlich untypisch für unsere bisherigen Erfahrungen in Ostdeutschland und deshalb um so bemerkenswerter.

Auch zu der Erfolgen der DDR - Sportler war mir nie Arroganz oder übertriebener Stolz bei den Ostdeutschen aufgefallen. Während der Olympiade 1988 wohnte ich nahe Nürnberg. Damals hatte ich gerne das DDR - Fernsehen empfangen und mir von Zeit zu Zeit die Aktuelle Kamera und den Schwarzen Kanal von Herrn Schnitzler mit seinem antiwestlichen Hetzsendungen angesehen. Zusätzlich hatte ich aber auch gerne die Olympiasendungen des DDR - Fernsehens empfangen. Ich fand damals die sachliche und kompetente Berichterstattung, ohne übertriebene Betonung der Erfolge der DDR - Sportler, sehr angenehm.

Vielleicht läßt sich aus dem Vorgenannten schließen, daß unsere ostdeutschen Landsleute auf den Gebieten, auf denen sie stark sind oder Fortschritte erkämpfen konnten, über das Selbstvertrauen verfügen, um ohne übertriebenen Stolz und mit Toleranz mit Anderen umgehen zu können. Dies läßt Hoffnung zu, daß in einigen Jahren auch bei den in den Abschnitten Ost - Stolz und Ost -Legenden genannten Erscheinungen Normalisierung eintritt.

 

4.2.5         Schuld

Zu der möglichen Verarbeitung von Schuld, die einzelne im DDR - System auf sich geladen haben mögen, war ich eigentlich immer der Meinung, daß dies Sache der Ostdeutschen sei. Die Westdeutschen verstehen von den Ursachen der Handlungen der Ostdeutschen wenig und beurteilen diese somit zwangsläufig mit ihrer Westbrille. Gespräche, die ich jüngst mit einigen Ostdeutschen geführt habe, haben bei mir jetzt jedoch einige Zweifel am bisherigen Standpunkt entstehen lassen.

Offenbar besteht bei den Ostdeutschen Einigkeit, daß die schuldigen ‘Großen’ abgeurteilt werden sollen. Mit diesen Großen sind Politbüromitglieder gemeint. Darüber hinaus gibt es eine stark verbreitete Neigung, alle anderen als ‘Kleine’ heute nicht mehr bezüglich ihrer individuellen Schuld zu überprüfen.

In Gesprächen vertrat ich die Meinung, daß ich niemandem einen Vorwurf machen würde, daß er Dienst an der Westgrenze gemacht hatte, um nicht durch eine Ablehnung eines derartigen Dienstes einen erwünschten Studienplatz zu gefährden. Allerdings sei ich der Meinung, daß in dem Augenblick, wenn er gezielt auf einen Flüchtling geschossen hatte und diesen auch getroffen hatte, er persönliche Schuld auf sich geladen habe. Diese sei heute vor Gericht zu untersuchen und auch zu bestrafen. Fast alle meine Gesprächspartner schien diese Argumentation zu überraschen. Hierbei wurden Aussagen gemacht, wie, ‘wenn der Soldat absichtlich vorbeigeschossen hätte, hätte er persönliche Nachteile gehabt’, oder ‘was waren das auch für Typen, die dort an die Grenze gingen, um zu fliehen...’.

Insgesamt stößt man bei einer Mehrheit der Ostdeutschen im Gespräch stets auf Unverständnis, wenn über die Frage individueller Schuld zu DDR - Zeiten gesprochen wird. Nach wie vor besonders provokant ist es, wenn ein Westdeutscher sich das Recht nimmt, das DDR - Regime in einzelnen Punkten mit dem Herrschaftsstil während der Nazizeit zu vergleichen. Offensichtlich hat sich die intensive alltägliche Propaganda, in der die DDR den Antifaschismus quasi als Ersatzreligion hochstilisiert hatte, in die Köpfen vieler ehemaliger DDR - Bürger eingegraben. Somit stellt der Vergleich SED mit Nazis praktisch ein Sakrileg dar.

Es gibt in der Mehrheit nicht die Erkenntnis, daß die DDR ein Unrechtssystem war und überhaupt besteht auch nicht die Absicht, sich mit dem Gedanken auseinander zu setzen, was denn wohl ein Unrechtsregime wäre. Es wurde gelernt, daß das Unrecht stets auf Seiten der Faschisten, Kapitalisten, Pfaffen u.s.w. war. Wenn durch eigene Hände bzw. durch Vertreter des Systems Blut vergossen wurde, dann nur in Erfüllung des zwangsläufigen historischen Ablaufs zur Erreichung und Verteidung der kommunistischen Gesellschaft.

Stasi als Sündenböcke

 
Nach der Wende gab es darüber hinaus noch die akzeptierte Vorstellung, daß alles was mit Stasi zusammen hing, wohl auch Unrecht gewesen sein müsse. Damit standen dann auch Sündenböcke bereit, für menschliches Fehlverhalten, wie Denunziation und persönliche Vorteilsverschaffung, die eigentlich, wie ich meine, auch weit über den Rahmen von Stasimitarbeitern verbreitet war.

Dies ist die bis heute anhaltende ostdeutsche Variante der Verdrängung möglicher individueller Schuld, wie wir sie in Westdeutschland bei der fehlenden Auseinandersetzung mit dem kollektiven Wegsehen während der Nazi - Zeit bei der Verschleppung von Nachbarn u. ä. kennengelernt haben. Hier muß aber auch noch angemerkt werden, daß in der frühen DDR auch diese Auseinandersetzung nie stattgefunden hatte. Den Ostdeutschen wurde stets gelehrt, daß alle Nazis in Westdeutschland sitzen und die wenigen früheren in Ostdeutschland verbliebenen abgeurteilt waren. Wenn junge Leute aus Westdeutschland Ausschwitz besucht hatten, zeigten sie häufig persönliche Betroffenheit und Scham bezüglich der Schuld ihres Volkes. Junge Leute aus Ostdeutschland hingegen hatten dort kaum derartige Reaktionen gezeigt. Sie waren ja 1945 von der Herrschaft der Nazis befreit worden......

 

4.3               Wirtschaft

4.3.1         Produktivität

Bis heute, im Frühjahr 97, wich der Optimismus zu dem noch im letzten Jahr propagierten ‘Aufschwung Ost’ einem breiten Pessimismus. Der Spiegel titelte im Juni 96 mit ‘Absturz Ost’ und gab hierzu in einem ausführlichen Bericht einige Negativbeispiele. Diese scheinbar überraschende Wendung ist für Insider weit weniger überraschend. Lothar Späth, Chef der Jena - Optik in Thüringen und früherer Baden- Württembergischer Ministerpräsident, erklärte bereits im April 95 in der TV - Gottschalk - Show, daß der Export aus dem Osten erst frühestens in 5 bis 6 Jahren international konkurrenzfähig werden kann. Bis dahin müßte der Westen unterstützen. Lothar Späth hatte auch bei weiteren Publikationen mehrfach betont, daß er in seinem Unternehmen bei 80% Lohnzahlungen mit 50% Produktivität arbeitet und somit keinen Grund für Optimismus sehen kann. Diese Erkenntnis hat sich nun durchgesetzt, weshalb heute diskutiert wird, eine Angleichung der Löhne Ost - West noch viele Jahre aufzuschieben.

 

4.3.2         Ost - Vorgesetzte und Mitarbeiter

Hingegen wird nicht ernsthaft diskutiert, was denn die Ursache für die im Vergleich zum Westen genannte 50% Produktivität sein kann. Eine der Ursachen ist nach meiner Erfahrung die folgende:

Ost - Vorgesetzte führen ihr Kollektiv selbstherrlich und patriarchalisch.

Im Osten denkt der Chef

 
Aus der DDR wurde berichtet, daß selbst alltägliche Entscheidungen, wie die Veröffentlichungen bestimmter kritischer Bücher, aber insbesondere auch Millioneninvestitionen im Industriebereich durch die Instanzen bis zum Zentralkomitee getragen wurden und dort von Honecker höchstpersönlich entschieden wurden. Ein Abbild dieses Zentralismus findet sich auch in den Betrieben wieder. Ich habe erlebt, daß vom Abteilungsleiter sämtliche Initiativen, Kundenkontakte, und Einzelmaßnahmen ausgingen. Ich war einige Monate Gruppenleiter in einem Ost -Industrie­unternehmen. Unser Ost - Abteilungsleiter fand nichts dabei, während Gesprächen mit seinen Gruppenleitern 20 minütige Telefonate zu führen und somit viele Besprechungen mit völlig unproduktivem Ausgang auf 2 Stunden auszudehnen. Das Ergebnis eines derartigen Führungsstils besteht darin, daß die Sachbearbeiter sich nicht mit ihren Rollen und ihrem Handlungsbereich identifizieren und dort nicht frei wirken können. In erfolgreichen Westunternehmen ist bei den Sachbearbeitern die Identifikation mit der Aufgabe und ein gegenüber dem Osten deutlich höheres Maß an Entscheidungsfreiheit und Selbstverantwortung üblich.

Dies ist eine der wesentlichen Ursachen für die heute beklagte mangelnde Produktivität in Ostbetrieben. Ostchefs waren und sind patriarchalische Führer, die das Denken für ihre Mitarbeiter übernehmen. Es gibt hierbei auch eine Wechselwirkung. Die Chefs hatten in der DDR kaum materielle Vorteile. Darum hatten viele Mitarbeiter wenig Karriereambitionen und sich einfach darauf beschränkt, ihre Energie in private Angelegenheiten zu stecken oder in Resignation ihre Potentiale ruhen lassen. Diese Mitarbeiter hatten somit auch von ihren Chefs erwartet, daß diese ‘alles tun’. Dieses antrainierte Verhalten wirkt bis heute in den Ostunternehmen fort.

Zusätzlich war es in den Treuhandunternehmen vor der Privatisierung üblich, daß der Personalstand etwa auf ein Viertel gesenkt wurde. Somit hatten die alten Kader darüber zu bestimmen, wer gehen mußte und wer bleiben durfte. Bei der Privatisierung hatte der Investor dann einen Personalbestand zu übernehmen, über dessen Zusammensetzung er nicht bestimmen durfte. Wie sollte er mit einem übriggebliebenen Konzentrat von ‘alten Genossen’ den Neubeginn zustande bringen?

 

4.3.3         Arbeiter ohne 'krummen Rücken'

Bei einer Urlaubsreise an die Ostsee fiel mir auf, daß sehr viele Wege existieren, die mit vorgefertigten trapezförmigen Betonplatten gelegt wurden. Die Platten haben Metallösen, so daß sie leicht mit einem kleinen Kran auf die gewünschte Stelle gelegt werden konnten. Auf Grund der Trapezform ist es leicht möglich, mit einer Einheitsplatte alle Wegkrümmungen zu legen, indem bei Krümmungen die schmaleren Enden der Trapezplatten in den kleineren Krümmungsradius des Weges gelegt wurden. Derartige ausgetüftelte und dann im großen Umfang, d. h. fast ausschließlich, angewandte Techniken und Methoden sind typisch für die Bautechnik in der DDR. Der Vergleich mit den Techniken zur Herstellung von befestigten Wegen in Westdeutschland ist höchst aufschlußreich. Im Westen gibt es hierfür sehr viele unterschiedliche Techniken. Betonierte Wege werden in der Regel eingeschalt und am Boden vergossen. Auch schmalere Wege werden auf dem Lande in der Regel asphaltiert und Wege in exponierten Stadtlagen meistens aufwendig gepflastert.

Die Arbeitsqualität wurde von den Ausführenden bestimmt und nicht von den Nutzern

 

Bautechnik mit pünktlichem Arbeitsbeginn und -ende

 
Die beschriebenen DDR - Betonplattenwege lassen sich mit sehr wenig Aufwand legen. Es bedarf nur eines provisorischen Untergrundes; dann kann ein Brigadeauto vorfahren und ein kleiner Brigadetrupp kann die Einheits - Trapez - Fertigteile legen. Alle gelegten Fertigteile haben, wie schon gesagt, kleine Mulden in denen die Baustahlschlaufen herausragen, an denen die Platten zum verlegen befestigt wurden. Derartige störende Stellen würden auf Westwegen kaum akzeptiert werden. Im Osten wurde hingegen die Qualität von den Ausführenden bestimmt und nicht von den Nutzern. Die Ausführenden konnten diese Teile bequem verlegen. Sie konnten morgens zum gewählten Zeitpunkt mit der Arbeit beginnen und abends konnte auch jederzeit das Verlegen weiterer Elemente gestoppt werden. Man brauchte sich, im Vergleich zu den Pflasterern im Westen, nicht schinden und die Fertigteile einfach von oben mit einer kranähnlichen Vorrichtung auslegen.

Der Grund für diese Arbeitstechnik bestand darin, daß die ausführenden Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes der DDR waren. (Fast alle Arbeitsplätze waren in der DDR im öffentlichem Dienst). Im Westen werden derartige Wege von kleinen Firmen gelegt. Deren Arbeiter können im Vergleich zu Angestellten der Industrie oder gar des öffentlichen Dienstes als unterprivilegiert bezeichnet werden. Sie akzeptieren einen Arbeitsplatz, oder müssen einen Arbeitsplatz akzeptieren, an dem man sich bückt und vom pflastern Schwielen an den Händen bekommt. Würden alle Wege auch in Westdeutschland von Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes gelegt, so würden sich wahrscheinlich sehr schnell ähnliche arbeitserleichternde Techniken herausbilden, wie es in der DDR der Fall war. Das Schönheitsempfinden der Auftraggeber und Wegebenutzer mußte hinter den Komfortbedürfnissen der ausführenden Arbeiter zurücktreten.

Kürzlich hatte ich in diesem Zusammenhang ein anderes eindrucksvolles Erlebnis. In einer Renovierung wurden Räume komplett erneuert. Dies ging soweit, daß Innenräume in den Rohbauzustand versetzt wurden und danach Estrich und Installationen und der Putz an den Wänden erneuert wurden. Das Ergebnis war am Ende, daß wieder, wie vorher, alle Heizungsrohre so auf den Innenwänden verlegt wurden, daß wichtige Schrankstellplätze durch die Rohre auf den Wänden versperrt blieben. Das Ergebnis dieser teuren Renovierung sah scheußlich aus. Dies würde in Westdeutschland von den Auftraggebern keinesfalls akzeptiert. Dort haben die Bauarbeiter Schlitze in die Wand zu stemmen, so das die Heizungsrohre in die Wand unter den Putz gelegt werden können. Es ist hingegen leicht vorstellbar, daß Installateure in den früheren Kombinaten eben Installateure und nicht 'Wändeaufklopper' waren und eine derartige niedere Arbeit kaum mit ihrem Berufsbild vereinbar war. - In Westdeutschland machen oft Hilfsarbeiter solche Arbeiten. In diesem Zusammenhang wäre es interessant zu erfahren, ob es im 'Arbeiter- und Bauernstaat' überhaupt eine nennenswerte Zahl von Hilfsarbeitern gab.

DDR war ein Arbeiterstaat und kein Konsumen­tenstaat

 
Es ließen sich hierzu noch weitere Beispiele nennen. Als Resümee bleibt, daß auch heute noch die Ost - Handwerker häufig so arbeiten, daß sie ihren Arbeitsaufwand minimieren, was oftmals auch bei den Anstrengungen für die Qualität gilt. In der DDR hatte der Kunde nichts zu sagen und mußte froh sein, wenn er überhaupt Produkte oder Handwerksleistungen erhielt. Im Westen hingegen herrscht seit Jahrzehnten ein derartig scharfer Wettbewerb, daß die Kunden ihre Ansprüche an Qualität und Ästhetik der Ausführungen stetig höher schrauben konnten. Die Ausführenden mußten sich anstrengen und z. B. befestigte Wege in gebückter Arbeitshaltung legen, um den gewünschten Auftrag erhalten zu können. Die DDR war insoweit tatsächlich ein Arbeiterstaat, als daß die Ausführenden ihre Anstrengungen beinahe beliebig absenken konnten. - Schon während der Arbeitszeit mußten sie allerdings mit den großen Mängeln in der Zulieferung die Konsequenzen ertragen, die daraus entstanden, daß die Werktätigen in der Zulieferkette auch ihren Arbeitsalltag 'optimiert' hatten. Wenn sie dann schließlich nach Feierabend von der Arbeiter- in die Konsumentenrolle schlüpften, dann mußten sie auch mit den entsprechend miesen Produkten und Leistungen der anderen Werktätigen vorlieb nehmen.

Unsere ostdeutschen Landsleute sind erst seit wenigen Jahren in der Wettbewerbswirtschaft. Mit immensen Transferzahlungen aus dem Westen konnte in den letzten Jahren ein Lebensstandard erreicht werden, der bislang noch im Widerspruch zu der in Jahrzehnten angewöhnten sozialistischen Arbeitsweise steht. Dies gilt besonders im Bau- und Handwerksbereich.

Im öffentlichen Dienst erscheint mir der Unterschied zwischen Ost und West weniger groß zu sein. Dort mußten in Ostdeutschland im wesentlichen nur die Verwaltungsvorschriften des neuen Systems erlernt werden. Nach meiner Erfahrung sind die Mitarbeiter auf den Ost - Ämtern eher aufgeschlossener und freund­licher zu den Bürgern. Vielleicht liegt dies aber auch an einer dichteren personellen Besetzung. Es gibt allerdings keine erkennbare Neigung der Verantwortlichen in den Ost - Verwaltungen, erkennbare Mißstände abzustellen. Ein Beispiel sind die vielen neu­ralgischen Punkte im Straßenverkehr, in dem die Ostdeutschen heute tagtäglich das im Sozialismus geübte Schlange stehen fortsetzen müssen. Nach meiner Kenntnis gibt es hierzu kein Problembewußtsein und nichtmals Absichtserklärungen, die Mißstände mittelfristig abzustellen.  

In ostdeutschen Industriebetrieben konnten sich die Mitarbeiter bisher kaum auf Qualität, Produktivität und Kundenorientierung besinnen. Die Übriggebliebenen waren in den vergangenen Jahren zu sehr damit beschäftigt, bei den gewaltigen Kündigungswellen zu überleben. Gute Beziehungen zu den Entscheidungsträgern und zum Betriebsrat waren hierfür besonders wichtig. Unter Treuhand - Regie entschied meist das alte Ost - Management, wer gehen mußte. Unter diesen Umständen wurden 70 bis 80% der Belegschaft in den Betrieben entlassen. Ich habe großen Zweifel, daß mit den angewandten Methoden und den alten Beziehungsgeflechten in den Firmen hierbei nun gerade die für die Wettbewerbswirtschaft Besten selektiert wurden.

 

4.4               Werte

4.4.1         Pessimismus

Vielen Westdeutschen fällt nach der Ankunft in Ostdeutschland auf, daß die Gesichter im Alltagsleben häufig freudlos wirken. Hierbei werden in vielen Fällen depressive Gesichtsausdrücke mit heruntergezogenen Mundwinkeln im Straßenbild wahrgenommen. Bemerkenswert ist der meistens festzustellende deutlich positive Wandel im Gesichtsausdruck, wenn man sie dann direkt und freundlich anspricht. Nach drei Jahren in Ostdeutschland meine ich heute persönlich, daß sich dieser Zustand gebessert hat (oder ich habe mich daran gewöhnt).

In Gesprächen mit Ostdeutschen überwiegt meistens die pessimistische Weltsicht. Dies ist bei durch Arbeitslosigkeit Betroffenen durchaus verständlich, aber der Pessimismus und der Negativismus tritt sehr wohl auch bei Ostdeutschen auf, die objektiv seit der Wiedervereinigung eine deutliche Steigerung ihres Lebensstandards und heute einen gut dotierten Arbeitsplatz haben. Die tiefer liegenden Gründe sind wesentlich komplexerer Natur.

Pessimismus und Negativismus überwiegt

 
Gründe für den Pessimismus liegen u. a. in der in vier Jahrzehnten gemachten Erfahrung fortwährender Absenkung der Zukunftserwartungen. Nach der bei vielen DDRlern vorhanden gewesenen positiven Aufbruchstimmung in den 50ern folgte bis zum Ende der 60er die Erkenntnis der Unerreichbarkeit des Paradises der Werkttätigen mit dem vorher propagierten Endzustand des Kommunismus (bei gleichzeitigem Einholen des westlichen Lebensstandards!). In den 70ern richtete man sich mit dem wenigen ein und war froh, wenn man endlich eine Plattenbauwohnung zugewiesen bekam. In den 80ern schließlich entstand eine immer lauter werdende Meckerkultur auf ‘die da oben’. Das Volk hatte in dieser Zeit mit einem ‘real existierenden Sozialismus’ zu leben, in dem die Führungsschicht ihren Werktätigen schamlos den Wert ihrer Arbeit mit Intershops für attraktive Westware gegen Westgeld vor Augen hielt.

Die wirklichen Gründe eines freudlosen Alltags lagen allerdings in fehlenden immateriellen Werten. Dieses Problem ist heute noch aktuell und wird ab Abschnitt 4.4.4 ausführlicher dargestellt.

 

4.4.2         Soziale Sicherheit

Die Arbeitslosigkeitsrate ist bekanntlich hoch und kann speziell in den Gebieten, in denen die DDR industrielle Monokultur hatte, hohe Werte bis 30 % annehmen. Ohne vom Arbeitsamt finanzierte Arbeits­beschaffungsmaßnahmen (ABM) und von der Treuhand mit den Investoren ausgehandelte befristete Arbeitsplatzgarantien dürfte die wahre Höhe der Ar­beits­losigkeit wohl noch wesentlich größer sein. In soweit kann einem für die nächste Zukunft tatsächlich Angst und Bange werden. Dies sind spezielle Probleme, hauptsächlich verursacht durch die Unfähigkeit der DDR - Wirtschaft und ihrer Akteure zu einem schnellen Anschluß an die Leistungsfähigkeit der westdeutschen Wirtschaft.

Bei der schon seit vielen Jahren auch in Westdeutschland hohen Arbeitslosenzahl handelt es sich hingegen um ein neues Phänomen, welches sich die DDR - Bürger durch die Wiedervereinigung eingehandelt haben [11]. Es ist für sie besonders erschreckend, da es für die Meisten in der DDR keine Zweifel geben konnte, was die Berufsjahre bis zur Rente bringen würden.

Der Verlust der gewohnten Sicherheit im Alltagsleben ist die einschneidenste Veränderung durch die Wiedervereinigung. Hierzu muß kurz angemerkt werden, daß alle unsere Sinneswahrnehmungen logarithmische Empfindlichkeit haben, d. h. wir neh­men relative Änderungen von der Ausgangssituation etwa gleich stark wahr. So können z. B. 30% Änderungen bei niedrigem Schallpegel oder niedriger Lichtintensität etwa gleich stark wahrgenommen werden, wie 30% Änderungen in Bezug auf höhere Geräuschpegel oder stärkerer Ausleuchtung. Dies gilt, obwohl diese Intensitäten sich mit dem 100- oder 1000fachen unterscheiden können. Mit unserer Risikowahrnehmung verhält es sich ähnlich. - Menschen in südamerikanischen Großstadtghettos leben mit einem ungleich höheren Existenzrisiko als wir. Sie würden keinen Moment zögern, britisches Rindfleisch als Festtagsmahl zu essen, während wir vor der statistisch kleinen, aber realen Gefahr einer BSE - Infektion zurückschrecken. Ein Kleinunternehmer, der nicht weiß, ob er übernächsten Monat noch die für seine Existenz notwendigen Aufträge erhält, hat we­nig Verständnis für die Sorgen des Beamten, ob dieser in 20 Jahren mit seiner Rente möglicherweise Abstriche gegenüber heutigen Rentnern hinnehmen muß.

Unsere Sinne nehmen relative Änderungen war - auch bei dem Risiko

 
Aus diesem Blickwinkel ist der für den durchschnittlichen Ostdeutschen hinzunehmende Verlust an Sicherheit gegenüber der DDR-Gesellschaft als dramatisch zu bezeichnen. Hiermit ist der starke Drang von Ostdeutschen in den öffentlichen Dienst, am besten in Beamtenpositionen, leicht erklärbar. Tatsächlich können Ostdeutsche mit derartig abgesicherten Positionen am ehesten das gewohnte Leben weiter führen, ohne hierbei auf die Segnungen westlicher Einkommen verzichten zu müssen.

Der Begriff ‘Soziale Sicherheit’ meint hierbei weniger die Angst, gegenüber früher einen objektiv geringeren Lebensstandard zu bekommen. Diese Gefahr kann mit Arbeitslosengeld und auch mit Arbeitslosenhilfe abgewendet werden. Das dürfte reichen für DDR Standard, sprich, eine unrenovierte Wohnung, Grundnahrungsmittel, Konsumgüter unterster Qualität, eventuell auch ein kleiner Altwagen.

Es ist die Angst vor dem sozialen Abstieg, der die stark gesunkene soziale Sicherheit so unerträglich macht. Das ist auch in Westdeutschland das Hauptproblem. In Ostdeutschland war der Einzelne es aber seit dem Kindergarten in allen Etappen durch Schule, Beruf und Freizeit gewohnt, daß Nachbarn, Kollegen, Freunde und Familie alle fast gleich viel (oder gleich wenig) wie er selbst hatten. Zur sozialen Sicherheit hatte es auch gehört, daß er sein Geld bedenkenlos ausgeben konnte, soweit er etwas Interessantes überhaupt kaufen konnte. Mit diesem Konsumverhalten wird heute zum einen festgestellt, das man sich viele Dinge, die der Nachbar hat, nicht leisten kann. Dies löst bereits Unbehagen aus. Bei Job - Verlust schließlich verliert man einen Teil des Einkommens, womit der Unterschied zum Nachbarn noch größer wird. Besonders schmerzhaft ist hierbei auch der Verlust des täglichen Zusammenseins mit den anderen Mitgliedern des Arbeitskollektivs und der Gleichwertigkeit zu diesen. Hierbei muß zum Verständnis nochmals angemerkt werden, daß die DDR - Bürger häufig eine engere Bindung zu ihrem Arbeitskollektiv wie die West - Arbeitnehmer zu ihren Kollegen haben. Dies liegt an kollektiver Erziehung und dem Zusammensein bei politischen Demonstrationen (das war Dienst!), Kulturabenden (das auch...) und vielen gemeinsamen Wochenenden im betriebseigenen ländlichen Erholungszentrum.

Wenn viele arbeitslos sind, dann ist Arbeitslosigkeit keine Schande

 
Die Massenarbeitslosigkeit und der Umstand, nicht mehr allein mit Arbeitslosigkeit gebranntmarkt zu sein, führt nach meiner Beobachtung bei einem Teil der Betroffenen allerdings dazu, sich mit diesem neuen Zustand zu arrangieren. Das kann im Einzelfall so aussehen: Die Wende-Konsumträume sind erloschen oder teilweise erfüllt; arrangieren mußte man sich vorher auch - die hektische Malocherei im Kapitalismus bringt einen ja um. Außerdem hatte man ja in der Schule gelernt, wer schuld ist, wenn es Schwierigkeiten in der Wirtschaft gibt. ‘Zu Dumpingpreisen wird man jedenfalls nicht arbeiten....’ (Zitat, häufig bei verschiedenen Gelegenheiten gehört).

 


 

4.4.3         'Jetzt sind wir mal dran'

Die Namensgebung für diesen Abschnitt viel mir schwer. Zuerst sollte die Überschrift 'Neid' heißen. Tatsächlich begegneten mir wiederholt Reaktionen und Aussagen Ostdeutscher, die ich zuerst pauschal in die Kategorie Neid eingefügt hatte. Z. B. mokierte sich mein Mitarbeiter im ostdeutschen Industriebetrieb über die 2 Autos der Familie Schmitt. Auch mein Hinweis, daß meine beiden alten Autos sicherlich viel weniger wert seien als sein neues Auto, konnten seine Empörung über diese sehr westlichen Wohlstandsexzesse nicht mindern. Ich hatte auch wiederholt gehört, wie abfällig Ostdeutsche über ihre Westbesuche während der DDR - Zeit sprachen. Häufig waren das dann Verwandte mit 'protzigem Mercedes', die den (erbetenen) Kaffee mitgebracht hatten und ihn herablassend ihren 'armen' Ostverwandten geschenkt hätten. Mir sind auch viele Fälle bekannt, bei denen die früher erbetenen Besuche der Westverwandtschaft nach 1990 nicht mehr erwünscht waren. Hierzu möchte ich aber anmerken, daß diese Fälle zwar oft, aber, wie ich glaube, nicht mehrheitlich stattgefunden haben.

Sicher gibt es auch im Westen nicht wenig Neid. Aber hierbei gibt es doch einen deutlichen qualitativen Unterschied. Wenn der Westler sieht, wie sein Nachbar mit dem Anhänger mit einer Segelyacht vorfährt, mag er reagieren mit dem Wunsch 'das, bzw. sowas will ich auch haben'. Der Ostdeutsche mag hingegen in der gleichen Situation reagieren mit dem Wunsch 'das will ich haben'. - Dieser kleine Unterschied hat eine tiefere Bedeutung. Er meint nicht das gleiche, sondern das selbe, was er gern an sich bringen würde. - Im Sozialismus lebten die Menschen in einer Verteilungsgesellschaft und nicht in einer Produktionsgesellschaft. Wenn es was zu ver­teilen gab, mußte man schauen, das man es bekam. Der Glaube, daß es sich lohnt, seine Aktivitäten in einen Arbeitsprozeß einzubringen, der dazu führt, daß man mit den Ergebnissen später seine Konsumwünsche erfüllen kann, war längst verloren gegangen.

Neid

im Westen:
So was möchte ich auch haben

im Osten:
Das möchte ich haben

 
Der Westdeutsche wußte aus Erfahrung, daß er an das gewünschte Konsumziel kommen kann, wenn er mehr arbeitet, eine höher bezahlte Stelle sucht, o. ä.. Der Ostdeutsche konnte derartige Ziele weder durch Mehrarbeit erreichen, geschweige denn seine Stelle wechseln. Nun ist ihm im sozialistischen Alltag auch nie passiert, daß sein Nachbar mit einer Segelyacht vorgefahren wäre. Die herrschende Schicht hatte ihre materiellen Privilegien wohlweislich vor dem Volk verborgen gehalten. Im Volk gab es praktisch keine materiellen Unterschiede. Dies ging soweit, das der Typ des Autos, der Schuhe, der Kleidung und Anderes identisch waren. In der Verteilungsgesellschaft wurde vom DDR - Regime in Jahrzehnten viel Substanz verbraucht (Wohnhäuser, Straßen, Umwelt, Einsatzfreude der Menschen) und wenig Neues geschaffen. Die Bürger kämpften somit um das zu Verteilende; daß Warten auf die zukünftigen Segnungen des Sozialismus hatte sich längst verschlissen.

Seit 1990 sprudeln ergiebige Geldquellen in Ostdeutschland. An diesen Quellen sitzen heute viele Ostdeutsche, die gelernt haben, das der Fortschritt und das Wachstum immer propagiert wird, aber niemals eintritt. Sie haben auch seit der Wiedervereinigung einen sich lediglich verschärfenden Niedergang der Wirtschaft erfahren. Im Sommer 1996, berichteten die Zeitungen über vielversprechende Pro­jekte und innovative Firmen. Von den früher berichteten Zahlen wissen wir aufgrund der neueren negativen Entwicklungen bereits, daß die Erfolgsberichte zur wirtschaftlichen Entwicklung von Sommer 95 offensicht­lich mit der gleichen Grundhaltung, wie die ständigen Erfolgsberichte der Wirtschaft der DDR, erstellt wurden. In den Firmen, Verwaltungen, Technologiezentren sitzen Leute, deren Tun nicht von dem Streben nach einem besseren Morgen bestimmt ist; dies können sie sich mit ihren bisherigen Erfahrungen einfach nicht vorstellen. Ihr Tun ist von dem Bemühen bestimmt, aufzupassen, daß die sprudelnden Geldquellen nicht in andere Hände fallen. Besonders die Wessi - Abzocker müssen draußen bleiben. Schließlich ‘ist das Geld nicht für Die bestimmt’ (Zitat).

Wächter der sprudelnden Geldquellen

 
Dieses Verhalten beruht auf dem weitverbreiteten 'Jetzt sind wir mal dran'. Dieser Spruch repräsentiert den allgemeinen Wunsch, in der Gegenwart Versäumtes nachzuholen und den aktuellen Geldsegen zu verkonsumieren. Von der Zukunft war in der Vergangenheit nie Gutes zu erwarten und gegenwärtig ist auch die überwiegende Mehrheit überzeugt davon, daß dies so bleibt. Die Äußerungen Ostdeutscher hierzu, die, wie oben gesagt, dem Westdeutschen zunächst als Neid o. ä. erscheinen können, beruhen offenbar auf einem starken Verlangen, Versäumtes nachzuholen. Diese Gier nach Leben in der Gegenwart führt zu vielerlei Erscheinungen. Eine große Anzahl von Ostdeutschen ruiniert sich im Konsumrausch. Hierbei wird oftmals die im Westen verbreitete Unsitte des privaten Schuldenmachens schon quantitativ überholt. Jetzt gleich soll alles auf einmal und in vollen Zügen ausgekostet werden.

Manchmal erscheint es, als wenn viele Ostdeutsche dies nur für einen zeitlich befristeten Traum halten. Tatsächlich habe ich schon mehrfach Sprüche von Ostdeutschen gehört, wie 'mit diesem Wohlstand kann es ja nicht mehr lange so weitergehen (das ist ja nicht normal)'. Möglicherweise spiegeln derartige Sprüche die Erfahrung des permanenten Niedergangs und die in der Schule gelernten Aussagen, daß der dekadente Kapitalismus bald zusammenbrechen muß.

 

4.4.4         Haß

Im Buch 'Adieu DDR' [12] wurden verschiedene Personen aus der DDR, etwa Mitte 1990 zu ihrem sehr persönlichen damaligen Abschied von dem Staat DDR interviewt. Die Bekenntnisse von Funktions­trägern der SED, Stasifunktionären, Benachteiligten des DDR Systems und auch engagierten Kirchenmitgliedern sind sehr eindrucksvoll. Sie wirken ehrlich, aus der Sicht der jeweiligen unterschiedlichen Personen, und zeigen bei der Mehrheit den hohen Grad an Verwirrung und manchmal Ratlosigkeit, den der dramatische Wechsel in ein völlig anderes Gesellschaftssystem für sie bedeutete. In jedem Falle eine empfehlenswerte Lektüre.

West - Haß:
Man haßt etwas zu tun

Ost - Haß:
Man haßt Personen, oder fürchtet gehaßt zu werden

 
Mir fiel in diesem Buch jedoch auch etwas ganz anderes auf. Fast jeder Interviewte benutzte mindestens einmal das Wort 'Haß'; sei es, das er diesen auf irgendwelche anderen hatte oder das er befürchtete mußte, selber gehaßt zu werden. Der Stasi-Mann hatte den Rekord. Er brachte es fertig, in zwei Absätzen fünfmal das Wort 'Haß' einzubauen.

Dieses Wort kommt nach meiner Wahrnehmung im aktuellen westdeutschen Sprachgebrauch praktisch nicht vor. D. h. nicht, das es unbekannt ist, aber es wird praktisch nie benutzt, jedenfalls kaum gegen Personen. Üblich ist allein der Ausdruck, daß man haßt, dieses und jenes zu tun [13]. Man kann aber auch nicht sagen, das es etwa tabu wäre. Es ist nur einfach nicht 'in'.

Im aktuellen Sprachgebrauch von Ostdeutschen ist mir bisher auch kein häufiger Gebrauch dieses Wortes aufgefallen. Allerdings findet sich in Äusserungen zu Gegnern, insbesondere zu West - Konkurrenten, die leitende Tätigkeiten in Ostdeutschland erhalten haben, eine Tönung, bei der durchaus Haß vermutet werden kann.

Nun läßt sich trefflich spekulieren, ob in der kommunistischen Lehre oder im DDR Alltag der Gebrauch von ‘Haß’ wiederzufinden ist. Bekannt ist jedenfalls, daß es eine Erziehung zum Haß des Feindes in der Armee gab (während in der Bundeswehr seit den 70ern das Feindbild erklärtermaßen abgeschafft war), Faschisten zu hassen waren und auch sonst genug Feindbilder außerhalb der Klasse der DDR-Werktätigen vorhanden waren (und zusätzlich noch viele Verräter, Verhetzer und Zersetzer innerhalb dieser Klasse). Abschließend läßt sich vielleicht sagen, daß für die vielen deklarierten 'Feinde' als natürliche Folge oft das Gefühl 'Haß' aktiviert wurde. 

In der Kulter des christlichen Abendlandes waren mit dem Jesus - Wort ‘Liebet Eure Feinde’ der ungehemmten Anwendung des Wortes ‘Haß’ bisher jeden­falls deutliche moralische Schranken gesetzt. 

 

4.4.5         Klassenkampf

'Wir erfahren heute, daß das was wir früher in der Schule über den Kapitalismus gelernt haben, stimmt'.

Dieser Satz wird von vielen Ostdeutschen für richtig gehalten und auch offen ausgesprochen. Er ist die Reaktion auf hohe Arbeitslosenzahlen und der Ärger, daß es viele Millionäre gibt und man selber nicht dazugehört. Zwar wird von den Meisten durchaus verstanden, daß niedrige Produktivität in den Betrieben irgendwo auch niedrige Löhne bedingen muß, andererseits wird nicht eingesehen, warum man im Verteilungskampf zurückstecken soll, solange es noch Leute im Lande gibt (inklusive Westdeutschland), die mehr haben als man selbst. Die Auseinandersetzung im Verteilungskampf wird im Osten noch dadurch verschärft, daß die Arbeiter und Angestellten über ein in Jahrzehnten erlerntes Klassenbewußtsein verfügen und sich nach wie vor in einem (Verteilungs-) Kampf mit den Reicheren sehen. Ein gutes Teil des alten DDR - Weltbildes wurde hierbei nahtlos übernommen.

Dieses Klassenbewußtsein wurde auch dadurch erzeugt, daß den Mitgliedern der Klasse eine Gegengruppe, der ‘Klassenfeind’ präsentiert wurde. Es ist aus vielen Lebenslagen her bekannt, daß ein hohes Zusammengehörigkeitsgefühl generell erzeugt werden kann, indem den Mitgliedern einer Gruppe eine Gegengruppe präsentiert wird. Dies funktioniert bekanntlich im Fußball auf Dorf - , Region - , Länder - und Nationenebene. Ebenso konnten die Nazis den Deutschen ein Gefühl der exklusiven Zugehörigkeit zu einer Volksgemeinschaft vermitteln, indem andere Rassen oder politische Systeme als natürliche Feinde des ganzen Volkes proklamiert wurden. Bei den Kommunisten wurde die Gegnerschaft zwischen Nationen durch das Bild eines internationalen Proletariats ersetzt, welches den Gegner in einer anderen sozialen Klasse hat. Während die Nazis (und nicht nur die) die menschliche Gemeinschaft zwischen den Nationen vertikal geteilt hatten, hatten die Kommunisten sie horizontal zwischen den Klassen geteilt. 

Die Nationalisten hatten die menschliche Gemeinschaft vertikal geteilt und die Kommunisten hatten sie horizontal geteilt

 
Die Ostdeutschen hatten entgegen der staatlichen Propaganda Westdeutschland kaum als Ausland an­gesehen. Dies war eher in Westdeutschland verbreitet. Die DDR - Propaganda war aber insoweit nachhaltig erfolgreich, als daß viele Ostdeutsche sicher glaubten, daß das Monopolkapital, die (Wirtschafts-) Imperialisten und die alten und neuen Faschisten allesamt in Westdeutschland saßen. Dieser Glauben wurde auch durch die Wiedervereinigung nicht verändert.

Die Urväter des Kommunismus und alle späteren Führer hatten stets betont, daß es auf eine hohe Produktivität im Wettbewerb der Systeme ankäme. Ende der 80iger Jahre hatte sich auch bei den Systemtreuen in Osteuropa die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Wettbewerbswirtschaft die höhere Produktivität hat. Das ist sicher einer der Gründe, daß die Kommunisten in allen osteuropäischen Ländern sich kaum gegen den Wechsel des Wirtschaftssystems zur Wehr gesetzt hatten.

Der ‘Klassenfeind’ lebt noch in den Köpfen vieler Ostdeutscher

 
Dies heißt aber nicht, daß man jetzt im Kapitalisten nicht mehr den Klassenfeind sähe. In einer Umfrage hatten kürzlich noch deutlich über 60% der Ostdeutschen das Wort Unternehmer mit 'Ausbeuter' gleichgesetzt. (In Westdeutschland sind das etwa 45%.) Es herrschen nach wie vor sehr starke feindliche Gefühle gegen Investoren. Deren Übernahme von Firmen in Ostdeutschland (dies gilt auch für das restliche Osteuropa) wird von den Arbeitnehmern häufig mit Beutenahme der Kapitalisten nach Gewinn des kalten Krieges gleichgesetzt. Es herrscht eine weitverbreitete Übereinstimmung in der Absicht, diesen Kapitalisten jetzt nicht zu erlauben, auch noch regelmäßige Gewinne aus ihrer Beute abzuziehen.

Eine Anzahl von Ostdeutschen hat dies Bild vom Klassenfeind des westdeutschen ‘Kapitalisten’ auf den ganzen deutschen Rechtstaat erweitert, bzw. die­ses Feindbild aus der DDR unverändert mitgebracht. Relativ neu ist dann lediglich, daß dies jetzt wieder laut und in die eigenen Reihen drohend ausgerufen wird. Ein Indiz für hierfür ist z. Bsp. der Artikel ‘PDS - Abgeordneter droht mit Austritt’ aus der Berliner Zeitung vom 7.12.96. Dieser Abgeordnete (parteilos, früherer Gewerkschaftssekretär der HBV) wurde in seiner Partei im Ortsverband heftig kritisiert, weil er ‘die Position des Klassenfeindes verträte’. Er hatte sich öffentlich an den Aussagen anderer PDSler gestört. Diese hatten mit Begriffen wie ‘Siegerjustiz’ die Urteile des Bundesverfassungsgerichts für einige Todesschützen verunglimpft, die Menschen an der DDR - Mauer wegen versuchter ‘Republikflucht’ erschossen hatten. Er sagte dann noch im Interview, daß er zwar ‘nicht ganz alleine da stehe’, jedoch sich in weiten Teilen der PDS ‘das alte Feindbild von der Bundesrepublik konserviert’ habe.

 

4.4.6         Glaube, Liebe, Hoffnung

Zu den drei o. g. Worten hatte ich als Jugendlicher in den frühen siebziger Jahren von den damals sehr starken linken Meinungsführern in Westdeutschland gehört, daß dies 'Kitsch' sei. Alles was links war, war damals 'progressiv' (Erst später habe ich gelernt, daß dieser Begriff identisch mit dem Vokabular der Kommunisten ist. Diese hatten immer alles, was von ihnen stammte, als 'fortschrittlich' deklariert).

Seitdem ich in Ostdeutschland wohne, habe ich begonnen, den Wert dieser drei Worte mit anderen Augen zu sehen. Sie waren Ende des letzten Jahrhunderts, zum Ende der Romantik,  in Deutschland besonders 'in'. Alle drei sind rein idealistische Werte, die geradezu im Gegensatz zu der kalten, leblosen Welt des Materialismus stehen. In Ostdeutschland kam mir der Gedanke, daß der Kommunismus es offenbar darauf angelegt hatte, derartige immaterielle Werte zu zerstören. Im Einzelnen:

Glaube: Der Staatsatheismus wurde nachhaltig und erfolgreich verfolgt. Die DDR - Bevölkerung ist heute zu 90% (Statistisches Bundesamt) nicht Mitglied irgendwelcher Religionsgemeinschaften. Wenn mein zehnjähriger Sohn auf dem Schulhof erzählt hatte, daß er an Gott glaubt, mußte er sich von seine Kameraden Hohn und Spott gefallen lassen.

‘Weihnachts­stück’ im öffentlich geförderten Puppentheater mit Hexe und Luzifer als Helden.

 
Während heute für ein Wiederaufleben des christlichen Glaubens wenig getan wird, entwickeln sich Aber­glaube, Okkultismus und Satanismus. Ein Beispiel von Dezember 96: Unser Bezirksjournal im Ost­teil Berlins berichtete über das neue ‘Weih­nachts­stück’ des Puppentheaters. Heldin der Handlung war eine Hexe. Sie traf Luzifer [14] und verliebte sich in ihn. Als Nachwuchs der beiden kamen ‘nicht Kinder, sondern riesige Eier, die voller Überraschungen sind.....’. - Klar, daß diese ‘Kulturschaffenden’ auch aus öffentlichen Mitteln und vom Kulturamt des Bezirks gefördert werden. So wurde u. a. eine ganze Vorstellung aufgekauft, damit ‘die Kinder kostenlos das Spiel der Puppen bestaunen dürfen’.

Liebe: Etwas vergleichbares wie ‘Nächstenliebe’ war im Sozialismus nur innerhalb der Klasse der Werktätigen vorgesehen und war dort auch nicht mehr, als die Mitgliedschaft im Verband gleicher Interessen. Das Wort Liebe kommt, wenn mich mei­ne Wahrnehmung nicht trügt, im täglichen Spach­gebrauch nicht, oder nur sehr selten vor.

Im DDR - Sprachgebrauch hatte das Wort 'Erotik' einen hohen Gebrauchswert. Dieser Sprachgebrauch gilt nach wie vor (und soll auch hier nicht als negativ dargestellt werden. Der unkomplizierte Gebrauch dieses Wortes ist mir eher sympathischer als das West - Pendant 'Sex').

In Abschnitt 4.4.4 wurde bereits der offenbar verbreitete Gebrauch des Wortes Haß erwähnt.

Hoffnung: Hoffnung auf Großes wurde durch Sicherheit für das bestehende Kleine ersetzt. Jedem war deutlich klar, welche begrenzten Ziele er in den nächsten Jahrzehnten erreichen konnte. Für Träume blieb da praktisch kein Platz mehr, jedenfalls nicht als Bürger der DDR. Neue Horizonte konnten sich für den Normalbürger nur durch Ausreise oder durch die am Ende stattgefundene Wiedervereinigung eröffnen.

Gehört in Ostdeutschland:

‘Wir sind doch alle nur Tote auf Urlaub’

 
Das materialistische Weltbild führte zu Aussagen, wie ich sie kürzlich gehört habe: 'Wir sind doch alle nur Tote auf Urlaub!', d. h. bei der Geburt aus dem Nichts entstanden und beim Tod wieder zum Nichts verschwinden. Die Christen, als Anhänger des idealistischen Weltbildes (s. Abschnitt 7.2.2), sehen dies bekanntlich ganz anders.


 

4.5               Zusammenfassende Schlüsse zu den Erfahrungen mit Ostdeutschen

Die Ostdeutschen wurden für das Leben im Kollektiv erzogen und haben, je nach Alter, Jahrzehnte in kollektiven Gruppen gelebt. Viele leiden heute unter der neuen Freiheit. Sie fühlen sich isoliert, alleingelassen, ungeschützt und oftmals verunsichert durch die rasanten Änderungen und die ungewisse Zukunft.

Es gibt auch ein starkes Verlangen danach, daß endlich wieder Ruhe in den Köpfen einkehrt. - Edward de Bono beschreibt, wie unsere Gehirne neue Wahrnehmungen aufnehmen und als Muster abspeichern. In Abschnitt 7.3 wurde dies ausführlich erklärt. Besonders wichtig war hierbei, daß die Aufnahme neuer großer Muster zur Reorganisation der vorhandenen Muster führen muß. Diese Änderungen werden als unangenehm und störend wahrgenommen. Der Kopf benötigt einige Zeit, bis sich alle Muster reorganisiert haben und endlich wieder Gleichgewicht erreicht ist. Dann ist der betroffene Mensch wieder mit sich und seiner Welt ‘im Reinen’.

Wolf Wagner (s. Abschnitt 2) beschreibt die Phasen des Kulturschocks, die sich ergeben, wenn das gewohnte Weltbild bei Konfrontation mit einer anderen Kultur vollständig in Frage gestellt wird. Hierbei ergibt sich zunächst eine starke Ablehnung von allem Neuen. Nach dem vorstehenden De Bono - Modell heißt dies offenbar, daß dann das Verlangen nach Gleichgewicht im Kopf so stark wird, um zu verhindern, daß nicht jegliche Orientierung verloren wird.

Hiermit läßt sich leicht erklären, warum z. Zt. die in der DDR erworbenen alten Werte so hoch gehalten werden. Einer dieser Werte ist ein ausgeprägtes Klassenbewußtsein, d. h. das Zuge­hö­rig­keitsgefühl zu der in der Gesellschaft (der DDR) bestim­menden Klasse der Werktätigen. Dieses Verlangen nach Identität ist sehr stark und gilt nicht nur für PDS - Anhänger. Hinzu kommt auch die frühere Erfahrung, daß das Ausgestoßensein aus dieser Klasse Rechtlosigkeit bedeutet. Nach alter Definition kann es nur Mitgliedschaft in der Klasse der Werktätigen geben, oder man gehört zum Klassenfeind.

Dieser Klassenfeind wird heute vielfach (wieder) im Westen gesehen:

‘Er hat die Ostbetriebe plattgemacht, um sich der Konkurrenz zu entledigen’. Der Westen hat auch kräftig an der Wende verdient, da er seine Waren im neuen Markt absetzen konnte. Mit den sich heute abzeichnenden Schwierigkeiten beim ‘Aufbau Ost’ erlahmt das Interesse der Westler und sie wenden sich anderen (Ausbeutungs-) Zielen zu.’

- Diese Sätze sind von mir bei vielen Gesprächen mit Ostdeutschen so oder ähnlich gehört worden. Nach dieser Logik war der West - Ost Transfer von bis heute über 1000 Milliarden DM ein Akt der Ausbeutung. Ich hatte bereits in Abschnitt 7.2.6.4 meine Anmerkungen zu den Ursachen von der oftmals angewandten Zweck - Logik des ML gemacht.

Mit den alten Mustern wurde auch an vielen Gewohnheiten aus der sehr ineffizienten sozialistischen Wirtschaft festgehalten. In den Ostunternehmen herrschen nach wie vor vielfach die dominanten Ostchefs[15]. Die Mitarbeiter bleiben weitgehend passiv und entwickeln nicht die erforderliche Eigeninitiative für effektive Arbeit. Gewaltige Investitionsmittel wurden zum größten Teil sinnlos verschleudert. Zukunftsprojekte wurden propagiert. Niemand glaubt wirklich daran. Bis heute wurden zu wenig Fähigkeiten erworben, um konstruktiv in die Zukunft wirken zu können. Aufgrund jahrzehntelanger Erfahrung des ständigen Niedergangs, bei der Fortschritt nur in der Propaganda existiert, konnte bis heute keine Zuversicht aufgebaut werden, die die Voraussetzung für einen positiven Neubeginn wäre. Die Zerstörung der Religiösität im Sozialismus hat auch immaterielle Werte wie Hoffnung, Gottvertrauen und den Glauben an einen Sinn, auch in persönlich benachteiligter Situation, schwer beschädigt.

Die Beurteilung der heute erlebten Situation durch Ostdeutsche beruht weitestgehend auf einer Grundphilosophie, bei dem im Kampf der Gegensätze das Fremde (von außerhalb der Klasse, zu der man gehört) als Gegensatz negiert, d. h. abgelehnt und beseitigt werden soll. Dieses Weltbild ist die Ursache, warum sich der Einzelne im Kollektiv stark fühlt und sich in einem ständigen Kampf mit einer feindlichen Umwelt sieht. Dies hat auch Einzug in die Alterssprache gehalten. So sprechen Sportler, wenn sie ein Spiel verloren haben, davon, daß sie eine Niederlage (im Kampf) erlitten haben. Dieses dramatische Wort habe ich auch im Zusammenhang mit beruflichen Rückschlägen gehört.

Bitte vergleichen Sie selbst, lieber Leser: Der optimistische, auf Gott vertrauende Mensch erfährt bei Mißerfolg Rückschläge oder verliert Spiele. Der ma­te­rialistische Mensch erleidet Niederlagen im Kampf gegen seine Feinde.


 

5      Fehler in der Gegenwart

5.1               Das Geld überflutet den Osten

West - Ost Transfer: Bald 100.000 DM pro Kopf in Ostdeutschland

 
In den letzten Jahren sind jährlich etwa 200 Milliarden DM als West/Ost - Transfer für den 'Aufbau Ost' aufgewandt worden. Die daraus folgende Summe von über 1000 Milliarden bedeutet, daß mit etwas mehr als 15 Millionen Ostdeutschen in naher Zukunft für jeden Ostdeutschen eine Aufbauhilfe von 100000 DM aufgewandt sein wird. Für eine vierköpfige Familie summiert sich das dann auf 400000 DM. Da ist dann auch der Zeitpunkt nicht mehr weit, wo jeder Ostdeutsche schon fast von den Zinsen leben könnte, hätte man ihm das Geld auf sein Konto überwiesen, anstatt es in den Aufbau der Infrastruktur, in die marode Industrie usw. zu investieren.

Tatsächlich haben diese Geldmengen, die seit einigen Jahren nach Ostdeutschland fluten, zwar die Infrastruktur entscheidend verbessert, aber den Umbau der Wirtschaft in vielerlei Hinsicht behindert. Der Umfang des Geldtransfers war die Ursache, daß die Immobilien innerhalb kürzester Zeit spekulativ aufgewertet wurden. Dies führte zu schnell ansteigenden Gewerbemieten oder hohen Kapitalkosten für die Immobilien in den Bilanzen der Unternehmen. Diese Kosten bewirkten in vielen Fällen sehr schnell betriebswirtschaftliche Ergebnisse, bei denen keine ausreichenden Erträge aus den wirtschaftlichen Tätigkeiten der Firmen ausgewiesen werden konnten. Dies, wie auch die sehr schnell angestiegenen Lohnkosten bei nur langsam ansteigender Produktivität, ist der Grund, daß die Firmen die Verlustzone nicht verlassen konnten, was in jüngster Zeit (und auch in der nächsten Zukunft) zu einer Vielzahl von Firmenzusammenbrüchen führt. Ein großer Teil der aufgewandten Finanzmittel für den Aufbau Ost wurde bei Subventionen verkonsumiert, womit lediglich Zeit bis zum Aufbrechen der grundsätzlichen strukturellen Probleme gewonnen werden konnte.

Berufliche Weiterbildung - Gehälter vom Arbeitsamt und 40%ige Fehlstände

 

Viel Geld und eine paar Akademiker für den ‘Aufbau Ost’

 
Als fachliche Unterstützung hatte der Westen eine re­lativ kleine Anzahl von Akademikern als Führungskräfte für Wirtschaft und Verwaltung geschickt. Die Ursache hierfür war eine völlige Überschätzung der Rolle der Akademiker für den Wohlstand, den wir seit Jahrzehnten in Westdeutschland haben. Hierbei wird die wichtige Rolle der unteren Leitungsebene und der Facharbeiter und Arbeiter in der Wirtschaft Westdeutschlands verkannt. Alle Teilnehmer an den Produktionsprozessen in der Wettbewerbswirtschaft im Westen haben gleichermaßen einen Anteil am errungenen Wohlstand.

Ebenso hatte sich in den sozialistischen Volkswirtschaften ein Zusammenspiel bei allen Teilnehmern des Produktionsprozesses ergeben, der dann zu, im Vergleich zum Westen, sehr niedriger Produktivität geführt hatte. [16]

Somit besteht nach wie vor beträchtlicher Schulungsbedarf bei den ostdeutschen Arbeitnehmern um die Defizite bei Qualität, Produktivität und Kundenorientierung zu beseitigen. In der gegenwärtigen Praxis fördern jedoch die Ostarbeitsämter meistens rein ostdeutsche Weiterbildungsunternehmen, die den Ar­beits­losen Ökonomie (erlernt im Studium an der DDR Universität) beibringen, oder ihnen in psychologischen Kursen erklären, wie gut sie mit ihrem Oststudium sind. Die Hits in der beruflichen Weiterbildung sind hierbei PC - Kurse und Buchführungskurse, da die ostdeutschen Ausbilder hierfür relativ schnell ertüchtigt werden konnten. Nach meinen Informationen sind Fehlstände von 40% keine Ausnahme, in den bis zu 12 monatigen Seminaren, wobei die teilnehmenden Arbeitslosen Gehälter vom Arbeitsamt beziehen. Ein echter Know How Transfer zu den Anforderungen der westlichen Wettbewerbswirtschaft ist bisher unterentwickelt.

Aufbau Ost - Geldüberflu­tung statt Kultivierung

 
Der Fehler der bisherigen Geldüberflutung in Ostdeutschland läßt sich mit einem Bild darstellen, bei dem ein verkrusteter Acker für zukünftige bessere Ernten nach dem Umpflügen einfach mit Unmengen von Wasser überflutet wurde. Das Pflügen war sicher notwendig, aber das Überfluten ist sinnlos und destruktiv. Wenn das Wasser abzieht, wird man einen verwüsteten, unfruchtbaren erodierten Boden zurückbehalten. Es wurde bisher vergessen, daß reiche Ernten und Wohlstand nur erhalten werden können, wenn der Acker aufgebrochen wird und dann gesät und wohldosiert bewässert wird. Bei einem verkrusteten Acker bedarf es besonders intensiver Bearbeitung und liebevoller Pflege, um später die Früchte der Mühe zu ernten. Es bedarf auch der gemeinsamen Kleinarbeit aller Beteiligten, um großflächig die einzelnen aufgebrochenen Schollen in weichen fruchtbaren Boden zu verwandeln.

Leute mit umgestülpten Regenschirmen fangen den warmen Geldregen

 
Dieses Bild läßt sich noch weiter illustrieren, wenn die Geldflut durch einen warmen Regen ersetzt wird, der seit Jahren auf Ostdeutschland niedergeht, und die Akteure hinzukommen. In diesem Bild sehe ich viele Leute, die damit beschäftigt sind, mit nach oben gestülpten Regenschirmen dazustehen und den Regen aufzufangen. Einige Leute sind damit beschäftigt, größere Gruppen von Leuten zu organisieren, sich in geordnete Reihen zum Auffangen des warmen Geldregens aufzustellen. Einige haben auch begonnen, Erdarbeiten durchzuführen. Das Ziel dieser Arbeiten sind aber lediglich provisorische Kanalsysteme, um die Fluten an die Empfänger zu leiten. Hinzukommen einige Wessis, die mit leeren Tankwagen vorgefahren sind und zeltartige Vorrichtungen aufgebaut haben, um besonders große Mengen des Niederschlags aufzufangen. An vielen Stellen arbeiten Einzelne aus Ost und West oder kleine Gruppen und versuchen, auf begrenzten Flächen zu ackern. Den meisten von ihnen wird aber der notwendige Regen durch die aufgespannten Schirme vorenthalten.

 

5.2               Renten

Bei den Renten entwickelt sich zur Zeit ein Konflikt, der schon in nächster Zeit zu deutsch/deutschem Sprengstoff werden kann. Bereits jetzt sind die gesetzlichen Renten in Ostdeutschland höher als im Westen. Im November 96 wurden in den Medien folgende Zahlen veröffentlicht:

1995 waren die Durchschnittsrenten:

 

Ostdeutschland

Westdeutschland

Männer

1837 DM

1605 DM

Frauen

1057 DM

689 DM

Dieser Unterschied wird demnächst noch zunehmen, da die Ostrenten bei der bisherigen Methode der Rentenberechnung erst 80 % der Höhe im Vergleich zum Westen erreicht haben.

Als Gründe für die höheren Renten im Osten werden angegeben: kürzere Ausbildungszeiten und höhere Altersgrenzen für den Einstieg in die Rente. Wichtig ist auch, daß es im Osten keine Arbeitslosigkeit gab, die bei den Betroffenen im Westen deutlich zur Absenkung der Rente führt.

In dieser Entwicklung sehe ich eine skandalöse Ungerechtigkeit. Sie weist wieder einmal nach, wie weit unsere Politiker sich von ihren Bürgern und deren gesundem Volksempfinden entfernt haben.

Die Wiedervereinigung war ein Akt der Solidarität von den West- mit den Ostdeutschen. Den Westdeutschen war mehrheitlich klar, daß ein Teilen mit ihren ostdeutschen Landsleuten bei den vorhanden gewesenen riesigen Unterschieden im Lebensstandard jedem persönlich viel Geld kosten wird. Wenn Journalisten und Politiker diesen Erkenntnisstand bei ihren Bürger abstreiten, dann zeigt dies nur, wie wenig sie den sogenannten ‘einfachen’ Bürger verstehen. Wenn aus diesem Teilen im Alter 60% für den Ostdeutschen und 40% für den Westdeutschen werden soll, dann kann hierbei etwas nicht mit rechten Dingen zugehen.

Viele Ostdeutsche möchten alles teilen - mit den Reichen

 
Im Gesprächen mit Ostdeutschen zu diesem Thema höre ich oft die Begründung, daß damit auch die Einnahmen aus Zusatzversicherungen, die die meisten Westdeutschen ja wohl hätten, ausgeglichen werden sollen. Außerdem hätten viele im Westen ja auch Vermögen für das Alter ansparen können, was so im Osten nicht möglich war. - Diese Ostdeutschen vergleichen sich stets mit den wohlhabenden Westdeutschen und wollen offensichtlich alles ‘teilen’. Im Gegensatz hierzu habe ich nie gehört, daß jemand von diesen Rentnern jetzt mit den weniger gut weggekommenen Ost - Rentnern teilen will. Die soziale Gleichheit mit jedem reichen Westdeutschen wird reklamiert, aber unterhalb des eigenen Status soll die Gleichheit aufhören.     

Bei genauerem Hinsehen wird klar:

·       Die größten Profiteure finden sich bei denjenigen Ostdeutschen, die im­mer mitgemacht haben und gutdotierte, hoch­rangige Stellen im DDR - System hat­ten. (Die Mitarbeiter der Staatssicherheit sind hiermit weniger gemeint.) Wer sich dem Regime verweigerte, durfte nicht studieren oder wurde, wenn er sich im späteren Leben verweigerte, im Berufsleben heruntergestuft. - Es geht hier nicht darum die Mitmacher zu bestrafen, aber für eine Belohnung im Alter besteht auch kein Anlaß. Es soll hier auch nicht behauptet werden, daß alle Gutverdiener nur willige Sys­tem­diener waren (aber wohl doch eine Mehrheit von ihnen).

·       Frauen ließen ihre Kinder vom Staat erziehen und konnten deshalb fast zu 100% einer ganztägigen Arbeit nachgehen. Westliche Mütter, die als Haus­frauen ihre Kinder erzogen, sind die größten Verlierer bei dieser Art der Rentenverteilung.

·       Es gab in der DDR bekanntermaßen verdeckte Ar­beitslosigkeit. Zusätzlich ist der allgemeine niedrige Leistungsstand in der DDR - Wirtschaft kein Geheimnis mehr (siehe hierzu nochmals die Fußnote im Abschnitt 5.1). Er ist heute noch für jeden Besucher in Ostdeutschland offenbar, wenn er sich den maroden Zustand der noch unrenovierten Häuserfassaden ansieht. - Einer Gleichsetzung zur Rentenfestlegung mit der Hochleis­tungsarbeit im Westen erscheint mir zweifelhaft.

·       Die Ost - Arbeitnehmer waren angeblich alle hoch­qualifiziert. Dies wird entsprechend hoch bei der Rentenfestlegung berücksichtigt. Hilfsarbeiter gab es meines Wissens kaum (außer aus Vietnam). Im Westen waren Arbeitnehmer gezwungen, ausbildungsfremd zu arbeiten, wenn am Arbeitsmarkt für ihre Qualifikation nicht mehr genügend Nach­frage war. 

Ziel: Gleiche gesetzliche Durchschnitts­renten in Ost und West

 
Das Ziel muß sein, daß die Durchschnittszahlen der Renten in Ost- und West gleich sind. Deshalb im Vorgriff auf die Zukunftsforderungen im nächsten Kapitel hierzu einige Vorschläge:

*      Anhebung der angerechneten Kindererziehungszeiten für Mütter, die in diesen Jahren nicht gearbeitet hatten (die heutige Praxis der zeitgleichen doppelten Anrechnung von Kindererziehungszeiten und Arbeitszeiten ist blödsinnig. Dann wäre es sinnvoller, diese Zeiten den Kindern selbst oder den Dritten anzurechnen, die die Erziehung geleistet haben, wenn die Mütter arbeiten waren.

*      Bestimmung eines Faktors zur Rentenberechnung, damit bei unterschiedlichem Durchschnitt der Biografien in Ost und West eine Angleichung der Durchschnittsrenten in Ost und West ermöglicht wird.

*      Überprüfung der höheren Ostrenten, ob für bestimmte Berufsgruppen im Einzelfall nicht eine Korrektur angemessen ist.

*      Absenkung von höheren Ost - Renten und im Gegenzug eine Anhebung von Ost - Renten, die unterhalb des Durchschnitts liegen. Je weiter die Renten vom Mittelwert abweichen, sind sie mit steigenden Prozentsätzen zu korrigieren. Hiermit soll der mittlere Abweichungswert bei den Renten gesenkt werden, ohne den Durchschnittswert der Ost-Renten zu ändern. Der Grund zu diesem Vorschlag liegt in der Ungerechtigkeit, daß die Sys­temdiener der DDR oft höhere Renten bekommen und diejenigen niedrigere Renten erhalten, die sich widersetzt hatten und deshalb heruntergestuft wurden.

Getrennte Rentengebiete Ost- und Westdeutsch­land?

 
Die Alternative zu den vorstehenden Korrekturen könnte darin liegen, in den nächsten 20 Jahren separate Rentengebiete in Ost- und Westdeutschland zu schaffen. Die Ostrenten würden dann aus den in den neuen Bundesländern eingezahlten Rentenversicherungsbeiträgen stammen und in der Höhe entsprechend festgelegt.- Bei einer derartigen Lösung müßten die Gebiete, in denen eingezahlt wird und aus denen man seine Rente bezieht, der Seite entsprechen, in der man den größten Teil seines Lebens gewohnt hat. Somit müssten junge Ostdeutsche, die im Westen wohnen und arbeiten, für die Rente ihrer Eltern einzahlen. Sollten die Ostrentner bei dieser Art der Rentenberechnung Vorteile haben, weil sie mehr Kinder als die Westdeutschen großgezogen haben, so würde ich dies als gerecht ansehen.

Speziell die Rentenproblematik zeigt, wie unsinnig es war, einfach die Regeln der alten Bundesrepublik auf Ostdeutschland anzuwenden. Die gemachte Fehler beruhten nicht auf unkontrollierbaren Naturgewalten. Sie wurden von uns gemacht und können auch von uns wieder korrigiert werden.

 

5.3               Personalübernahmen und Verbeamtungen

Einer der verhängnisvollsten Fehler nach der Wiedervereinigung bestand darin, daß unter der Treuhand die Personalbestände auf 20 - 25% abgebaut wurden und der Investor, der diese Firmen dann kaufte, den restlichen Personalbstand übernehmen musste. Er konnte somit nicht selbst über die Zusammensetzung seines Personals entscheiden. Derartige Entscheidungen wurden von denjenigen gefällt, die schon in der DDR das Sagen in diesen Unternehmen hatten. Demgemäß erhielt der Investor bei der Übernahme ein Konzentrat von alten Genossen. Wer schon früher nicht stromlinienförmig angepaßt war, flog bei den Treuhand - Kündigungswellen raus.

Der Investor mußte dann mit der Treuhand Vereinbarungen eingehen, die für die nächsten Jahre auf Arbeitsplatzgarantien für die übernommenen Mitarbeiter herausliefen. Dies erhielt er dann von der Treuhand durch günstige Kaufpreise oder sogar großzügige Zuschüsse vergoldet. Bisher wurde kaum veröffentlicht, was derartige Arbeitsplatzgarantien dem deutschen Steuerzahler pro Arbeitsplatz gekostet haben [17].

Meines Erachtens war diese Praxis grundfalsch. Wenn schon 80% ihre Arbeit verloren, dann wäre es richtiger gewesen, zum Zeitpunkt der Übernahme allen Mitarbeitern zu kündigen. Der Investor hätte dann vertraglich verpflichtet werden können, innerhalb einer gewissen Frist eine bestimmte Zahl von Leuten einzustellen. - Eigentlich hätte es ausgereicht, das erworbene Unternehmen mit einer Nutzungsbestimmung zu verkaufen. Mitarbeiter hätte er dann ohnehin einstellen müssen. - Mit der Auswahl und Einstellung der Mitarbeiter durch den neuen Unternehmer wären die Karten neu gemischt worden und alte Kollektive aufgelöst. Hiermit wäre auch ein zuversichtlicher Neubeginn möglich gewesen. - Bei der gelaufenen Übernahmepraxis übergab die Treuhand Unternehmen, die noch an der Obergrenze des notwendigen Personalbestands waren. Hiermit waren Einstellungen in der nächsten Zeit nicht möglich und die Mitarbeiter, die zuvor die Entlassungswellen erlebt und überlebt hatten, mußten sich nach wie vor die bange Frage stellen ‘Wer ist als nächster dran?’    

Eine andere Praxis des Geldverschwendens nach der Wiedervereinigung (und dieses Geld wird uns in den vor uns liegenden Krisen in Ostdeutschland fehlen) war der sogenannte ‘Goldene Handschlag’.

‘Goldener Handschlag’ für übernommene Mitarbeiter in sichere Stellen

 
Bei diesem wurde im Öffentlichen Dienst Personal, welches vorher im Staatsdienst war, durch Träger übernommen. Er bestand aus Abfindungszahlungen im Zehntausenderbereich an die Mitarbeiter, womit diese ihre Ansprüche, die sie nach Westmaßstäben durch langjährige Mitarbeit im öffentlichen Dienst erworben hatten, entgolten bekamen.

Meines Wissens hat der Großteil dieser Abfindungsempfänger sichere Weiterbeschäftigungen erhalten. Mir ist ein Fall bekannt, bei dem Erzieherinnen hohe Abfindungen erhielten, weil sie vom Staat zu einem kirchlichen Träger in unbefristete Arbeitsverträge (ohne Probezeit), d. h. in sichere Arbeitsverhältnisse, wechselten und zusätzlich die früheren Arbeitsjahre angerechnet bekamen, obgleich sie die Abfindung für eben diese Jahre erhalten hatten..

Gerade im Vergleich zu den Arbeitnehmern im gewerblichen und industriellen Bereich muß gefragt werden, warum solche hohen Entschädigungen bei kleinen Risiken gezahlt wurden, während anderswo Leute mit leeren Händen in die Arbeitslosigkeit entlassen wurden.  

Ostdeutsche Nachbarn:

Der eine im sicheren öffentlichen Dienst mit 100%  Westgehalt.

Der andere im unsicheren gewerblichen Unternehmen mit Lohnverzicht weit unterhalb 80%.

 
Die Konfliktträchtigkeit der gegenwärtigen Beschäftigungspraxis in Ostdeutschland wird noch deutlicher, wenn das Thema Verbeamtungen, insbesondere der Lehrer (s. hierzu Abschnitt 6.4) angesprochen wird. In Ost - Berlin wurden die Gehälter im öffentlichen Dienst und somit auch die der Lehrer seit Oktober 96 auf 100% des Westgehalts angehoben. - ‘Hört sich gut und gerecht an. - Nun entsteht aber immer häufiger die Situation, daß zwei Nachbarn in Ostdeutschland eine auseinanderklaffende Einkommens­entwicklung haben. Der eine sei z. Bsp.  Lehrer im öffentlichen Dienst und der andere z. Bsp. Ingenieur in der gewerblichen Wirtschaft, d. h. ein vergleichbarer Ausbildungsstand wie der Lehrer. Während der im Öffentlichen Dienst Arbeitende jetzt Westgehalt bezieht, hat der Betriebsrat von dem in der Wirtschaft Tätigen soeben freiwillig einer Gehaltskürzung von 80% auf 70% im Vergleich zum Westniveau zugestimmt. Dies war der einzige Weg, um noch eine Zeitlang die Arbeit zu behalten. Die weitere Zukunft bleibt ungewiß. So haben beide Nachbarn heute ganz unterschiedliche Sorgen. Während der Lehrer mit sicherer Stelle und hohem Einkommen USA - Reiseprospekte für den nächsten Urlaub studiert, überlegt der Ingenieur, das Auto abzuschaffen, um etwas Geld für die bevorstehende Arbeitslosigkeit zu sparen. 

Es stellt sich die Frage, nicht ob, sondern welche Art von sozialen Konflikten ausbricht, wenn trotz Niedergang in der gewerblichen Wirtschaft und entsprechender Einkommensminderung und hohen Exis­tenzrisiken die Gehälter im sicheren öffentlichen Dienst weit höher liegen. Es stellt sich auch die Frage, wer in Zukunft die für den öffentlichen Dienst erforderlichen Steuereinnahmen erwirtschaften soll.


6      Zukunft - Forderungen und Chancen

6.1               Neue Wege für neue Probleme

Am Ende von Abschnitt 7.3 wurde ausgeführt, daß bei elementaren Konflikten meistens nicht mehr kleine evolutionäre Veränderungen zur Lösung führen, sondern die Methode des ‘Designs’ anzuwenden ist. Dieser englische Ausdruck läßt sich im gegebenen Zusammenhang mit ‘schöpferischer, auf Kreativität beruhender Gestaltung’ übersetzen. Zusätzlich sind auch häufig Änderungen im System vorzunehmen, wenn in den im System liegenden Spielregeln die Ursachen des Problems liegen.

Die Wiedervereinigung der aus zwei völlig unterschiedlichen Gesellschaften kommenden West- und Ostdeutschen stellt eine große Herausforderung an unsere schöpferische Kreativität dar, um die sich auftürmenden Probleme lösen zu können. Allein das Vertrauen darauf, daß sich die Dinge schon einpendeln werden, reicht hier voraussichtlich nicht. Die offensichtlichen Mißstände sind ohne Tabus zu erkennen, zu benennen und abzustellen. - Einige Punkte hierzu:

·       Wenn erkannt wird, daß die gegenwärtige Tarif­­struk­tur und das jetzige Steuerrecht den Unternehmen in Ostdeutschland keine Überlebens­chance gibt, dann müssen diese Ursachen des Problems geändert werden - oder neue Unternehmens- und Beschäftigungsformen (bzw. Einkommensformen) eingeführt werden.

·       Ostdeutsche mit sicheren Stellen im öffentlichen Dienst oder in großen Betrieben haben eine starke Neigung, wieder in alte Arbeitsweisen zurückzufallen, sobald der Änderungsdruck nachläßt. Somit sollte westdeutsches Kündigungsrecht noch nicht uneingeschränkt angewandt werden.

·      

Nicht nur Immobilität belohnen

 
Zu wenige sind mobil und bringen Erfahrungen und Kenntnisse zu den in der Wettbewerbswirtschaft entwickelten Methoden in Ostdeutschland ein. Deshalb muß Mobilität mehr belohnt werden. Zur Zeit wird mit der Eigentumsförderung für Haus und Wohnung bei gleichzeitig erhöhter Grund­erwerbssteuer hauptsächlich Immobilität belohnt.

·       Die Finanzmittel des West - Ost Transfers werden über­wiegend konsumiert und zu wenig investiert. Deshalb ist auf der Konsumseite zu sparen. Dies berührt Tarife, Sozialleistungen und Renten.

·       Die Solidaritätsabgabe könnte auch von den Steuerzahlern in Ost und West in einen Fond als Kredit gegeben werden, aus dem sich die Banken refinanzieren. So könnte das Geld den Einzahlern erhalten bleiben; allerdings bei gehobenem Risikoniveau, da dieser Fond nur als Risikofond sinnvoll ist (sonst könnten sich die Investoren im Osten gleich am freien Geldmarkt versorgen).

·       Unternehmen in Regionen mit niedriger Arbeitslosigkeit könnten eine steuerliche Förderung erhalten, wenn sie Arbeitnehmer aus Regionen mit deutlich höheren pronzentualen Arbeitslosenzahlen beschäftigen. Dies würde regional ausgleichend wirken, die Mobilität fördern und Vorurteile bei den Arbeitgebern abbauen helfen.

Am wichtigsten dürfte es allerdings sein, ein Zukunftsbild zu entwerfen, wo es denn überhaupt hingehen soll. Gerade, wenn die Notwendigkeit einer Änderung von Rahmenbedingungen erkannt ist, dann müssen diese Änderungen mit ihren Auswirkungen auf die gemeinsamen Ziele bewertet werden können. Bei der Diskussion der möglichen Ziele werden wir schnell feststellen, daß es für deren Bestimmung zwingend gemeinsamer Werte bedarf. Tat­sächlich ist es ein großes aktuelles Problem in Deutschland, daß schon bei den Werten große Unklarheit herrscht, wo denn die Gemeinsamkeiten liegen. Selbst die Werteordnung des Einzelnen ist im Regelfall durcheinander geraten.

An dieser Stelle stellt sich die Aufgabe der Zukunftsgestaltung gleichermaßen an die Ost- und die Westdeutschen. Auch im Westen müssen mit dem rasanten Eintritt in das Informationszeitalter und der hiermit zusammenhängenden Globalisierung der Wirtschaft neue Wege gefunden werden. Das Zusammenwachsen wird demgemäß bei der gemeinsamen Bewältigung der vor uns stehenden Probleme stattfinden. Es besteht nicht darin, daß sich heute eine Seite der anderen vollständig anpassen muß. Die sozialistische Grundphilosophie, ihre praktizierten Werte, die alltägliche Unfreiheit sowie die wirtschaftliche Ineffizienz sind allerdings kein Weg in eine positive Zukunft.

Zuerst die Ziele festlegen - dann neue Wege suchen

 
Wir müssen uns auf Werte und Ziele einigen und alle Maßnahmen an diesen messen. Deshalb sollte jeder für sich (und/oder zusammen mit Anderen) Fragen wie die folgenden beantworten und das von ihm als richtig erkannte in der demokratischen Auseinandersetzung aktiv vertreten (wobei dies natürlich für jeden ein permanenter Erkenntnisprozeß ist):

¨    Sollen Kinder in intakten Familien aufwachsen? Wie hoch ist dagegen das Recht auf Freiheit der Elternteile zur individueller Selbstverwirklichung anzusetzen?

¨    Brauche ich einen Gott?

¨    Will ich in einem sicheren, solidarischen System leben und wieviel individuelle Freiheit bin ich bereit, dafür zu opfern?

¨    Wieviel Moral, Ehrlichkeit, Toleranz brauchen wir in der Gesellschaft?

¨    Will ich in Deutschland mit einem hohen Prozentsatz von Bürgern und Gästen anderer Kulturen und Religionen zusammenleben?

¨    Auf welche Bestandteile meines Wohlstands würde ich verzichten, um die Umwelt zu schonen?

¨    Will ich in einer Wettbewerbswirtschaft leben? Wo liegt das auch für mich persönlich wirkende Optimum zwischen dem wirksamen Leistunganreiz und dem sozialen Ausgleich?  

¨    Wieviel äußere Sicherheit möchte ich? Will ich einen bewaffneten Staat? Mit wem sollen wir paktieren?

 

6.2               West - Ost Transfer

Als 89/90 die DDR verschwand, war ich der Meinung, daß nun dort das Unterste nach oben gekehrt wird. Hiermit meinte ich, daß parasitäre Staatsfunktionäre zum Neuanfang gezwungen werden müssen und die Produktivkräfte von frustrierten, vom System gebundenen Bürgern entfesselt werden. Dies ist bis heute zu wenig geschehen.

Um eine schnelle Angleichung der Lebensverhältnisse zu erreichen, ist es notwendig, daß nicht nur eine Flut von Geld, sondern auch eine Flut von Menschen von West- nach Ostdeutschland geht. Dies kann sich nicht alleine auf einige Führungskräfte mit akademischen Abschlüssen beschränken. Hierbei wäre es auch sehr nützlich, wenn mehr Ostdeutsche für einige Zeit beruflich in den Westen gehen würden. Derartige notwendige Mobilität in beide Richtungen sollte steuerlich gefördert werden. Die erforderlichen Mittel wären durch Einsparungen bei den immensen Zuschüssen zu gewinnen, mit denen veraltete oder Schein­arbeitsplätze subventioniert werden.

Mobilität in beide Richtungen fördern

 
Bei Ostdeutschen sollte dann steuerlich gefördert werden, wenn sie zurück gehen, um dann ihre neuen Erfahrungen und Kenntnisse im Aufbau - Ost einzusetzen. Hiermit kann auch dem bereits laufenden Ost-West Personaltransfer gegengesteuert werden. Dieser hat sich wieder, wie vor 35 Jahren, zu einem regelrechten Aderlaß für Ostdeutschland entwickelt. Viele junge Ostdeutsche ver­lassen gegenwärtig Ostdeutsch­land. Dies stellt eine zusätzliche besondere Gefahr für die Erfolgsaussichten der wirtschaftlichen Entwicklung und der politischen Stabilität in Ostdeutschland dar. Besonders pro­blematisch ist, daß es gerade die Aktiven sind, die bei Arbeitslosigkeit im Osten die Initiative ergreifen und sich woanders neue Arbeit suchen. - Eine ostdeutsche Bekannte erzählte uns kürzlich, daß ihr Sohn soeben nach Stuttgart gereist war und sich vor Ort Arbeit gesucht hat. Er bekam auch eine Stelle, mit der Auflage, sofort anzufangen. 2 Wochen später zog er bereits von Berlin nach Stuttgart um. Diese Eigeninitiative wäre öfter erforderlich, um Deut­schland schneller zusammenwachsen zu lassen. Dies zeigt auch ein Vergleich zu vielen Westdeutschen, die statt Umzug nach Ostdeutschland lieber jahrelang pendeln, oder sich den Umzug, wie einige Beamte, durch staatliche Zuschüsse vergolden lassen. Dieser aktive junge Mann dürfte aber wahrscheinlich jetzt, wie die Erfahrung zeigt, für Ostdeutschland verloren sein.

Eine der die Entwicklung im Osten am schwersten behindernden Einflußgrößen war der explosionsartige Anstieg der Immobilienpreise. Dieser wurde durch Einigungseuphorie gestartet und durch eine künstliche, durch massive Subventionen ermöglichte Nachfrage eine Zeit lang aufrechterhalten. Erst in den letzten Monaten wurde offenbar, daß in Ostdeutsch­land noch keine Wirtschaftskraft aufgebaut wurde, die die Erträge erwirtschaftet, um hohe Immobilienmieten oder Zins und Abtragung bezahlen zu können.

Die Folge ist, daß z. Zt. mit abnehmender Nachfrage die Immobilienpreise sinken. Da jetzt auch spekulativ abwartende Immobilienbesitzer häufig noch schnell verkaufen wollen, beschleunigt sich der Preisverfall. Diese Entwicklung stellt für die Zukunft eine Chance dar. Die sinkenden Immobilienkosten entlasten die Unternehmer und können Geschäfte aus der Unrentabilität in den rentablen Bereich (dem Überlebensbereich) rücken. Wenn die Preise sich auf niedrigem Niveau stabilisieren (meine Prognose: am Tief­punkt unterhalb 30% der Westpreise in vergleichbarer Umgebung), dann werden diese niedrigen Preise wieder interessant für Investoren werden. Derart niedrige Preise und die im Vergleich zu Westdeutschland dünne Besiedlung wird dann zu einem Zuzug von Westdeutschen führen (freiwillig und ohne ‘Wüsten­zulage’). Erfahrene Praktiker aus dem Westen wären für den Aufbau neuer Unternehmen, speziell im Produktions- und Vertriebsbereich, nach wie vor sehr wichtig.

Ein spürbarer Prozentsatz von Westdeutschen in Ost­deutschland wäre aber auch aus kulturellen Gründen notwendig. Mit Kultur ist hierbei das Wertegefüge, das Lebensgefühl, die demokratische Tradition und die westeuropäische Identität gemeint.

Eine derartige Durchmischung würde den Weg der Ostdeutschen nach Westeuropa, bzw. in das freie Europa, beschleunigen. Dies soll nicht heißen, das nun unbedingt der im Westen oftmals übertriebene Individualismus und Liberalismus gänzlich übernommen werden muß. Vielleicht kann in Ostdeutschland ein besserer Mittelweg zwischen Verantwortung für die Gemeinschaft und persönlicher Freiheit gefunden werden, wie er zur Zeit in Westdeutschland praktiziert wird.  

 

6.3               Infrastruktur

Der kleinere Teil der Ausgaben im Osten wurde in die Modernisierung von Straßen und des Telefonnetzes investiert. Diese Investitionen sind unübersehbar und sind sicherlich die Voraussetzung für zukünftige wirtschaftliche Entwicklung.

Lichtblick: Fortschritte bei Straßenbau und Telekommunika­tion

 
Leider enden instandgesetzte Straßen schlagartig, sobald es in die Bereiche von kommunalen Verwaltun­gen geht. Hierzu ist bekannt, daß viele Gemeinden die möglichen Landeszuschüsse für Straßenmodernisierungen nicht abgerufen haben, da die Eigen­anteile nicht vorhanden waren. Offenbar haben die Kommunalverwaltungen es vorgezogen, ihre Finanz­mittel lieber für ihr eigenes Personal und deren Arbeitsplätze einzusetzen.

Im Ostberliner Straßenverkehr gibt es durch Stau verursachte sehr lange Ein- und Ausfahrtszeiten zum Zentrum hin. Offenbar gibt es dazu weder im Verkehrssenat, noch in den zuständigen Bezirken, ein Problembewußtsein. Auch bei den Bürgern scheint diese Variante des sozialistischen Schlangestehens kaum Widerspruch zu produzieren.

Das Problem wird durch viele neuralgische Punkte hervorgerufen. Dies sind Engpässe, bei denen z. Bsp. Linksabbieger durch langen Stau auch die Geradeausspur blockieren. Ampeln schalten nicht belas­tungsabhängig und oftmals mit zu kurzen Phasen. Hierdurch kann sich der stehende Verkehr kaum beschleunigen und nur wenige Autos ‘tröpfeln’ während der Grünphase durch. Die entstehenden Rückstaus behindern oftmals auch den Verkehr in den Seitenstraßen.

Das Problem wird noch verschärft, durch eine Eigenart der ostdeutschen Autofahrer. In Westdeutschland fahren die Autos im Geradeausverkehr eher näher auf ihren Vordermann auf. Dadurch bilden sich Kolonnen, zwischen denen größere leere Abstände entstehen. Diese sind für einbiegende Autos Pausen, bis die nächste Kolonne kommt, die zum Einbiegen genutzt werden können. - In Ostdeutschland ist die Neigung höher, den Abstand zum vorfahrenden Auto größer werden zu lassen. Positiv ausgedrückt kann man sagen, die Ost - Autofahrer drängeln nicht so. Hierdurch entstehen aber weniger Zwischenräume, die Wartenden aus Seitenstraßen das Einbiegen erleichtern würden. Demgemäß erhöhen sich deren Wartezeiten. 

 

6.4               Bildung und Erziehung

Im Sozialismus sollte der ‘Neue Mensch’ geformt werden

 
Bekanntlich hatten die Sozialisten immer starkes Interesse am Erziehungswesen. Schließlich sollte erklärtermaßen der ‘neue Mensch’ geformt werde. Erst mit diesem konnte es den Einzug in das kommunistische Paradies geben, in dem jeder nach seinen Fähigkeiten arbeitete und, gänzlich unabhängig von den Leistungen, jeder seine Bedürfnisse erfüllt bekam. Mit diesem Ziel konnte jemand, der Freiheit einforderte, wohl nur jemand sein, der eigene, egoistische Ziele in dieser Freiheit verfolgen wollte.

In allen Lebenslagen, in Kindertagesstätten, Schule und Schulhort, gegebenenfalls Hochschule und Betrieb war stets der Lehr- und Erziehungsstoff, aber auch die Reaktionen der Lernenden, von oben vorgeschrieben. Abweichler wurden mit entsprechendem Druck diszipliniert, bzw. erzogen.

Lehrer und Erzieher - alte Verhaltensmuster bei sicheren Arbeitsplätzen

 
Die in diesem System ausgebildeten und in der DDR - Praxis bewährten Erzieher und Lehrer sind zum größten Teil heute dabei, ihr im Sozialismus erworbenes Weltbild mehr oder weniger an die nächste Generation weiterzugeben. Wie in Abschnitt 0 angesprochen, ist es ein natürliches menschliches Verhalten, in Zeiten dramatischer Änderungen seine Orientierung mit dem Festhalten an alten Werten zu verteidigen. In den ersten Jahren herrschte bei den Lehrern große Vorsicht, dieses Weltbild nicht allzusehr ‘raushängen zu lassen. Sicher waren auch viele bemüht, sich den neuen Herrschenden anzupassen, um hiermit die berufliche Existenz behalten zu können. Heute sind die Lehrer und Erzieher aber alle in sicheren, unkündbaren Positionen. Nun konnte auch endlich wieder das Gleichgewicht im Kopf hergestellt werden. Original - Ton einer Lehrerin meines Kindes: ‘...und wir haben zwischenzeitlich gemerkt, daß unsere Methoden doch ganz gut waren’ (übrigens wird bei derartigen Bekenntnissen meistens das kollektive ‘wir’ benutzt).

‘Harmonie und Respekt’ in Ost - Kindertagesstätten

 
Auch bei den Erziehern zeigt sich häufig deutlich das Festhalten an den sozialistischen Erziehungszielen. In einer Studie der Universität Potsdam nannten brandenburgischen Erzieherinnen als oberste Erziehungsziele ‘ge­gen­seitige Rücksichtnahme, Respekt, liebevoll sein und Glück’ [18]. Diese Ziele sind aber identisch mit dem Wortlaut der DDR - Propaganda. Dabei ist leicht erkennbar, daß die beiden erstgenannten Ziele wohl auch des Verhältnis der Kinder zu ihren Erziehern meinen und somit ruhige Arbeitstage für die Erzieher sicherstellen sollen. Die  als drittes und viertes genannten Ziele sind hingegen so allgemein, daß sie jedenfalls nicht meßbar sind und kaum mehr als hohle Phrasen darstellen. - Wie wollen die Erzieher ihren Schützlingen ‘Glück’ vermitteln? - Im Artikel wird dann noch das Wort ‘Betreuer’ statt Erzieher benutzt. Es war zunächst auch die Hauptfunktion, die ‘abgegebenen’ Kinder zu versorgen, damit die Mütter ihrer Vollzeit - Arbeit nachgehen konnten. Die Kinder waren häufig 10 Stunden in den Tagesstätten. Somit gab es dann auch genug Zeit, die Kinder auf ihr Leben in einer gleichgeschalteten Gesellschaft vorzubereiten. In Kindergärten im Westen gehören lebhafte, eigensinnige Kinde kaum noch zu einer kleinen Minderheit. Viele Erzieher haben gelernt, damit umzugehen und die Individualität der Kinder zu fördern. Im Osten gelten solche Kinder nach wie vor oftmals als ‘schwierig’ und die ‘Harmonie störend’. Mit dieser Begründung wird Druck, auch auf die Eltern, ausgeübt. Immer noch gilt die Alternative, anpassen oder verstoßen werden.

Unsere Erfahrungen mit der Schule waren die folgenden:

Einschulung in Ost - Berlin

 
Wir hatten unseren Sohn Anfang 93 in der benachbarten Grundschule im Ostteil Berlins in der 2. Klasse angemeldet. Unsere Tochter wurde dann im Sommer dort eingeschult. Wir waren einigermaßen überrascht über den festlichen Rahmen, in dem dies stattfand. Bei der großen Einschulungsfeier fielen in den Festansprachen Ausdrücke wie der ‘wichtigste Tag im Leben’. Nach einer ausgiebigen Feier mit den Schülern zelebrierten sich zum Abschluß die Lehrer noch selbst, indem jeder von Ihnen eine Schultüte überreicht bekam. Dies wurde dann von allen Anwesenden, auch den Lehrern, mit Applaus unterstrichen. (Na ja, andere Länder, andere Sitten.) Der tiefere Sinn dieses Teils der Veranstaltung blieb mir verborgen. Zu Hause angekommen, brachten die Nach­barn noch Geschenke und wunderten sich, daß die Großeltern nicht zur Einschulungsfeier erschienen waren. Wir mußten froh sein, daß wir zufällig gerade Freunde aus Bayern zu Besuch hatten. So konnten wir den Nachbarn wenigstens einen Minimalbesuch zu der obligatorischen Familienfeier vorweisen. - Wir hatten somit die Erfahrung gemacht, mit welcher Bedeutung die Aufnahme von neuen kleinen Mitgliedern der sozialistische Gesellschaft versehen war. Wir kannten derartige Feierlichkeiten nur aus dem kirchlichen Leben.

In dem dann folgenden Jahr hatten wir festgestellt, daß unsere Kinder nicht ihre frühere gewohnte Unbefangenheit wiederfanden. Speziell unsere Tochter wirkte bedrückt. Im wesentlichen führten wir dies auf den Schulwechsel und den Verlust aller Freunde und Nachbarn zurück, der sich aus dem Umzug vom Ruhrgebiet nach Berlin ergeben hatte. Die Situation besserte sich jedoch kaum. Die Klassenlehrerinnen unserer Kinder machten einen freundlichen und engagierten Eindruck auf uns und schienen nicht das Problem zu sein. Bei einem Schulausflug, bei dem ich den Kindern das Gepäck zum Landschulheim transportierte, fiel mir allerdings ein für mich ungewohnter Befehlston auf, mit dem die Kinder diszipliniert wurden.

Im Vergleich zu den gleichaltrigen Kindern von Freunden aus Bayern und Nordrhein-Westfalen mußten wir in dem Jahr dann feststellen, das speziell bei dem älteren Sohn, der mittlerweile in die 3. Klasse ging, deutliche Rückstände im Lehrstoff  vorlagen. Wir wußten, daß er in Deutsch nicht seine Stärken hatte und trotzdem brachte er bei schlechten Leistungen auch in diesem Fach immer gute Noten. Zwischenzeitlich hatte er uns auch erzählt, daß er von Klassenkameraden ausgelacht wurde, als er ihnen sagte, daß er an Gott glaubt.

Im Sommer eröffnete dann eine neue freie evangelische Schule in unserem Ortsteil. Sie wurde mit Lehrern und Schülern aus dem West- und dem Ostteil Berlins ausgestattet. Wir begannen zu überlegen, ob wir unseren Kindern nochmals eine Umschulung zumuten sollten. Ausschlaggebend war dann eine Klassenarbeit des Sohnes in Deutsch, bei der es im Klassenspiegel überwiegend nur Einsen und Sechsen gab. Er hatte eine Eins. Dieses Erlebnis zeigte uns, daß unsere Sorgen zum mangelnden Niveau offenbar sehr begründet waren.

Wir fragten dann unsere Kinder, ob sie in die neue Schu­le wechseln wollten. Bezeichnenderweise waren beide sofort einverstanden. Offenbar hingen sie nicht an ihrer bisherigen Umgebung. Nach der Umschulung zeigte sich eine dramatische positive Verbesserung bei unseren Kindern. Auch die Tochter wurde innerhalb weniger Monate wesentlich gelöster und zufriedener. Heute gehen beide Kinder sehr gerne zur Schule. Sie haben gute soziale Kontakte zu den anderen Schülern und sie haben wieder hohes Selbstvertrauen entwickelt. Wir sind auch sehr einverstanden mit den christlichen Grundwerten und dem Bibelwissen, wie es in der Schule vermittelt wird.

Gibt es Mängel in ostdeutschen Schulen?

 
Mögliche Mängel in den ostdeutschen Schulen werden bisher nicht öffentlich diskutiert. Somit werden auch keine Ansätze zur Verbesserung gemacht. Offenbar ist dies jetzt auch nicht opportun. Die Ostdeutschen ringen noch um Gleichberechtigung und um gleiche Anteile bei der materiellen Verteilung in Deutschland. Sie tun dies, siehe Renten in Abschnitt 5.2, recht erfolgreich. Eine Diskussion um Mängel im Ausbildungssystem wäre jetzt höchst unerwünscht, da hiermit ja auch die Gleichwertigkeit von ostdeutschen Qualifikationen und Titeln in Frage gestellt werden könnte.  

Wie in Abschnitt 4.2.1 bereits ausgeführt, hatte ein intellektueller Wortführer (der auch politisch tätig ist und erheblichen Einfluß hat) im Gespräch abgestritten, daß es im Ostteil Berlins überhaupt ein Schulproblem gibt. Zwei Sätze später erwähnte er allerdings, daß seine Kinder im Westteil aufs Gymnasium gehen. Eine Lehrerin, die in einem Ostberliner Gymnasium unterrichtet, meinte im Privatgespräch, daß sie selbstverständlich ihre Kinder ins nächste Westberliner Gymnasium schicken wird.

Radikale Forderungen für die Beendigung sozialis­tischer Erziehung

 
Während ich bei allen bisher angesprochenen Punkten sehe, daß die Ostdeutschen Zeit benötigen, um ihren Weg von der Gesellschaft des ‘real existierenden Sozialismus’ in das neue, freie Europa zu finden, so hört meine Toleranz bei den anhaltenden Unzulänglichkeiten im Bildungs- und Erziehungswesen Ostdeutschlands auf. Wie soll dieser Weg in absehbarer Zukunft gefunden werden, wenn immer noch spätsozialistischer Nachwuchs erzogen wird?

Auf diesem Gebiet sind radikale Änderungen erforderlich. Diese sind nach dem Grundsatz ‘Neue Lösungen für neue Probleme’ und nicht nach dem föderalen Rollenverständnis der alten Bundesrepublik festzulegen. Meine Vorschläge:

·       Dem Bund ist, zumindest für die nächsten 10 Jahre, Weisungbefugnis für Bildung und Erziehung in den neuen Bundesländern zu geben. Hierfür ist ein Referat im zuständigen Bundesministerium einzurichten.

·       Mittels Stichproben durch das Bundesministerium ist der Wissensstand der Schuljahrgänge in verschiedenen westlichen und östlichen Bundesländern mit statistisch gesicherten Methoden zu überprüfen. Bei festgestellten Defiziten sind umgehend Maßnahmen einzuleiten. Falls erforderlich, sind diese auch auf Hochschulen auszudehnen.

·       Im Ministerium ist eine Beschwerdeannahmestelle zu sozialistischen Lehr- und Erziehungsmethoden, sowie -Wer­te­vermittlungen einzurichten. Vorkommnisse wer­den überprüft und gegebenenfalls gerügt, bzw. geahndet. Maßstab sind die Verordnungen und nicht die Mehrheitsmeinungen der Schullehrer und Erzieher oder -eltern der betroffenen Schulen und Kindertagesstätten (wie dies in der Rechtsprechung auch üblich ist).

·       Lehrer und Erzieher mit nachgewiesenen Mängeln haben an zentralen, vom Bundesministerium durchgeführten, Weiterbildungsseminaren teilzunehmen. Die Seminare sind in den Ferienzeiten durchzuführen. Bei 100% Westgehalt sind die Kosten von den Lehrern und Erziehern zu tragen, da sie ihre Leistung nicht zu 100% erbringen.


6.5               Wirtschaftliche Entwicklung mit den Stärken der Ostdeutschen

Ostdeutsch­lands Weg zum Erfolg?

 
Für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland ist es wichtig, einen Weg zu finden, der den Ostdeutschen entspricht. Hierfür ist natürlich Voraussetzung, daß zunächst überhaupt anerkannt wird, daß es Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen gibt. Wenn diese Unterschiede erkannt sind, dann sind die Stärken der Ostdeutschen herauszufinden, um auf deren Basis ein Konzept für wirtschaftlichen Erfolg zu entwickeln. Das Ergebnis kann dann sicher nicht eine 1:1 Kopie des heute in Westdeutschland recht erfolgreichen Weges sein. Zusätzlich gibt es z. Zt. auch in Westdeutschland Probleme mit einer hohen Arbeitslosenrate. Dies läßt es geraten erscheinen, nach Alternativen zu suchen.

In diesem Buch wurden viele Beispiele genannt, wo die Ostdeutschen durch Jahrzehnte in sozialistischer Mißwirtschaft Angewohnheiten und Werte erlernt haben, die für die Teilnahme an westlicher Wettbewerbswirtschaft Nachteile darstellen. Nun gilt es herauszufinden, welche ausgeprägten Eigenschaften der Ostdeutschen denn Stärken im wirtschaftlichen Geschehen sein könnten, wenn die Methode des Wirtschaftens sich diese Eigenschaften zunutze macht. Ich behaupte nicht, eine derartige Analyse hier aus dem Ärmel schütteln zu können. Nachfolgend jedoch einige Ansätze.


 

6.5.1         Brigaden von selbständigen Gesellschaftern

Ostdeutsche sind mehr Gruppenmenschen als Westdeutsche mit ihrem Individualismus.

Das Modell ‘Brigade’ scheint in der Natur bewährt zu sein

 
Dies muß aber keineswegs eine Schwäche sein. Der Mensch gehört stammesgeschichtlich am ehesten zu den Rudeltieren. Demnach ist das Leben in der Gruppe unsere Natur. Verhaltensforscher haben beim Rudeltier Wolf festgestellt, daß es in der Gruppe deswegen besonders effektiv jagt, weil im Rudel bei autoritärer Führung trotzdem jedes Mitglied seine besonderen Fähigkeiten einsetzen kann. Hierbei hat der Mutige, der Schnelle, der Starke, aber auch der Ängstliche seine besondere Rolle und kann seine Eigenschaft als Stärke in den Jagdvorgang einbringen. Die Zugehörigkeit zum Rudel ist lebenslang angelegt, der soziale Umgang besonders ausgeprägt. Das Rudel ist somit eher mit der beständigen sozialistischen Brigade als mit dem vergänglichen westlichen Team (vergleiche Abschnitt 4.1.4) zu vergleichen.

Modell ‘Brigade’ in der Natur bewährt?

 
Das Modell ‘Brigade’ scheint somit in der Natur bewährt zu sein und sollte auch in einer modernen Wettbewerbswirtschaft bestehen können. An der Entfaltung der Fähigkeiten der einzelnen Gruppenmitglieder scheint es im Sozialismus hingegen gemangelt zu haben. 

Die Mißerfolge des Wirtschaftszentralismus und der sozialistischen Großbetriebe sind eine historische Tatsache. Hieraus läßt sich wohl kaum ein erfolgversprechendes Zukunftskonzept ableiten. Die Reste dieser Betriebe werden zur Zeit von den nach den Treuhand - Kündigungswellen übriggebliebenen al­ten Kadern endgültig verkonsumiert. Mit den anstehenden Zusammenbrüchen wird in nächster Zukunft die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland dramatische Höhen erreichen. Wir können uns schon darauf gefaßt machen, daß diese gleichen Kader sich demnächst wieder bei den Sozialisten wiederfinden, die laut schreiend die Legenden von den Plattmachern aus dem Westen anfachen. Hierbei ist jetzt schon bei vielen Gesprächen mit Ostdeutschen zu hören, daß der Westen damit nur die Konkurrenz durch die Ostbetriebe beseitigen wollte. Die Tatsache, daß diese Ostbetriebe auch mit DDR Löhnen niemals eine ernstzunehmende Konkurrenz auf dem Weltmarkt waren, wird hierbei ignoriert.

Selbständige Arbeitsbri­ga­den statt Arbeitslosigkeit

 
Um eine schnelle Lösung für Arbeitslose zu finden, können diese sich organisieren, was oft unter der Leitung von führungserfahrenen Kadern geschehen mag, um ihre Arbeitsleistung in Gruppen für zeitlich befristete Projekte anzubieten. Die Strukturen der­artiger Arbeitsgruppen, die als GmbH’s gebildet sein können, wären denen in heutigen Beschäftigungsgesellschaft (ABM) sehr ähnlich. Sie können bei Ihren Kunden komplette Aufträge im Bereich der Produktion, Dienstleistung, Handel usw. übernehmen. Damit vermeiden sie die Ver­letzung des Arbeitnehmer­überlassungsgesetzes (wobei Gesetze auch geändert werden können, wenn die Situation dies erfordert). Die Mitglieder der Arbeitskollektive sind dann nicht Arbeitnehmer, sondern Teilhaber an der Beschäftigungsgesellschaft und somit selbständig tätig. Die bei Projekten erarbeiteten Ergebnisse pro Gesellschafter können zunächst deutlich unter üblichen Tarifen sein. Damit ist die GmbH sehr konkurrenzfähig und sollte Aufträge erhalten können. Bei gut funktionierenden Kollektiven trägt die Gruppe gemeinsam das Krankheitsrisiko von einzelnen Mitgliedern.

Diese Aussicht ist zugegebenermaßen erschreckend im Vergleich zum heutigen Bild eines festen Arbeitsplatzes. Dem Langzeitarbeitslosen mag sie jedoch bereits heute positiver als sein gegenwärtiger Zustand erscheinen. - Ich habe diesen Vorschlag mit einigen Leuten in Ostdeutschland diskutiert. Das Ergebnis war Ablehnung bei den Arbeitsplatzbesitzern und zustimmendes Interesse bei Arbeitslosen. Demgemäß wollen die Erstgenannten offenbar den Status Quo beibehalten, d. h. einen privilegierten Arbeitsplatz bei hoher Arbeitslosigkeitsrate, solange es sie nicht erwischt [19].

Vollbeschäftigung bei Gleichgewicht am Arbeitsmarkt und am Kapitalmarkt

 
Das Standardargument zur Aufrechterhaltung der hohen Tarife ist in West und Ost der Hinweis auf die mit sinkenden Kosten der Arbeit steigenden Gewinne der Unternehmensbesitzer. Diese Sichtweise ist kurzfristig angelegt und verkennt die Wechselwirkungen in einer Wettbewerbswirtschaft. Wenn die Produktionskosten sinken, zwingt der Wettbewerb dazu, die günstigeren Kosten an die Kunden weiterzugeben. Davon profitieren auch die Arbeitnehmer in ihrer Rolle als Konsumenten. Zusätzlich verbessern diese niedrigeren Kosten die weltweite Wettbewerbsfähigkeit und führen zu mehr Aufträgen. Dies ist der Weg in die Vollbeschäftigung. Bei hoher Beschäftigungsrate kann auch wieder mehr Entgelt für die Arbeit verlangt werden. Schließlich stellt sich dann auch am Arbeitsmarkt ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage ein [20].


6.5.2         Netzwerke von kooperierenden Kleinunternehmen

Eine Alternative für die Zukunft der Wirtschaft in Ostdeutschland kann ein Geflecht von Kleinunternehmen sein. Hiermit können auch Arbeitskollektive zu­sam­menarbeiten und die Früchte ihrer Arbeit selber ernten. Sie haben aber auch zu akzeptieren, daß ihre Einkommen dann ihrer Leistung entsprechen. Dies ist ein Weg, um zu verhindern, daß Tariflöhne, die mehr verteilen wollen als erwirtschaftet wird, die Unternehmen ruinieren. Das wäre dann auch keine 'Kapitalistische Gesellschaftform' die 'durch den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital' bestimmt ist. Sie könnte demgemäß auch kaum in den Klassenkampf verfallen, auf den die Ostdeutschen ja programmiert sind [21].

Die kooperierenden Unternehmen können die erforderliche wirtschaftliche Größe für weltweite Vermarktung erreichen, indem sie sich die verschiedenen Aufgaben zu Marketing & Vertrieb, Entwicklung, Produktion usw. teilen. Ketten von Unternehmen können sich als Markenname organisieren, um mit der Bekanntheit dieser Marke bei internationalen Ausschreibungen oder bei der Werbung für Konsumgüter gegen multinationale Konzerne bestehen zu können.

Die Rolle der Gewerkschaften kann sich in einer derartigen Wirtschaft komplett wandeln. Ihre Aufgabe kann dann auch sein, über das Funktionieren des Arbeitsmarktes zu wachen, um Preisabsprachen und Wettbewerbsverzerrungen am Arbeitsmarkt zu verhindern. Möglicherweise bleiben sie aber auch allein die Interessensvertreter von Arbeitern und Angestellten und das Gleichgewicht am Arbeitmarkt wird durch die Konkurrenz zu den GmbHs, mit den freien Anbietern ihrer Arbeitkraft, erreicht. In diesem Fall sollte der Gesetzgeber die Macht der Betriebsräte einschränken, damit die Vergabe von Aufträgen an die GmbHs möglich ist.


 

6.5.3         Neue Erfahrungsmuster

Zur Beschreibung einer möglichen Stärke von Ostdeutschen möchte ich noch ein weiteres Mal die Aussagen von dem in Abschnitt 7.3 genannten Neurologen E. de Bono bemühen. Er schreibt, daß Erfahrungen wie Muster im Kopf gespeichert werden. Dieser Erfahrungsvorrat ist die Grundlage, auf die Menschen schöpferisch tätig werden können. Neue Ideen können nur im Vergleich zu Bekanntem beurteilt werden, um Realisierbares und Nützliches zu selektieren und hiernach Entscheidungen für konkretes Handeln zu treffen.

Die Menschen aus sozialistischen Ländern kommen aus einer im Vergleich zum Westen relativ grauen Welt. Viele Erfahrungen und erlernte Doktrien aus dieser Welt haben in der Wettbewerbsgesellschaft wenig Nutzen. Zusätzlich war das Leben relativ abwechslungslos und mit wenig Eigenverantwortung gestaltet. Die Entfaltung schöpferischer Fähigkeiten wurde durch Vorgesetzte und Kollegen unterdrückt. Demzufolge läßt sich schließen, daß die Ostdeutschen im Mittel über einen relativ kleinen Vorrat an nützlichen Mustern verfügen.

Wenig Erfahrungsmuster
= Unbefangen­heit

 
Dieser Unterschied zu Westdeutschen hat aber zwei Gesichter. Zunächst ist es sicherlich ein Nachteil, wenn viele Irrtümer erst noch nachgeholt werden müssen, um die erforderlichen Erfahrungen zu sammeln. Andererseits sind wenig Muster im Kopf aber eine Eigenschaft, die typisch für junge Leute ist. Sie äussert sich als Unbefangenheit und kann, wenn die Angst zum Handeln in unbekanntem Bereich nicht zu groß ist, auch dieses Handeln erleichtern.

Als Konsequenz hieraus brauchen wir Rahmenbedingungen, bei der mutiges wirtschaftliches Handeln nicht zu lebenslangem Ruin führt. Diese können auch darin bestehen, daß es nach mißlungener selbständiger Tätigkeit wieder einen Weg zurück in ein Arbeitsleben geben muß, in der ein existenzsicherndes Einkommen möglich ist. Dies ist weitaus wichtiger, als eine öffentlich geförderte Gründerszene, in der eine große Anzahl von Bürokraten mit sicheren Stellen so tut, als wenn sie die neuen Unternehmer beraten könnte. Die Fähigkeit der Bürokraten zu den richtigen Entscheidungen für Subventionen an einzelne Gründer, nach langen zeitraubenden Antragsverfahren, erscheint mir ebenfalls zweifelhaft.

Es ist bereits heute in Ostdeutschland ein Trend erkennbar, bei dem viele ostdeutsche Existenzgründer durch Fleiß und Konzentration auf ihr kleines Geschäft sichtbare Erfolge erzielen. Diese Gründer haben oftmals auch schon ein mittleres Alter. Weniger Erfahrungsmuster sind in solchen Fällen kaum ein  Hindernis. Sie zwingen zur Beibehaltung des einmal eingeschlagenen Weges. Die Glücklichen, die sich eine später als richtig herausstellende Geschäfts­idee ausgesucht haben, und diese mit Ausdauer und Fleiß verfolgen, können sehr erfolgreich sein.

Da es viele ostdeutsche Gründer unterschiedlichen Alters gibt, die unbefangen, wie junge Leute, ihre Ge­schäftsideen verfolgen, sollte für einen guten Prozentsatz dieser Gruppe eine optimistische Prognose zulässig sein.

   

6.5.4         Zwang zum Neuanfang

Ein weitere Stärke, die die Ostdeutschen haben, folgt aus dem Zwang für viele, einen Neubeginn zu machen. So ist bei älteren Mitarbeitern in ostdeutschen Unternehmen [22] oft festzustellen, daß diese sich noch an den PC setzen und ihn als Arbeitsmittel erschließen. Im Westen ist die Neigung stärker, den erreichten Status nicht mehr in Frage zu stellen und nicht mit Jüngeren zu konkurrieren.

Wenn der Gefahr des bequemen Rückfalls in alte, gewohnte Arbeitsweisen wirksam gegengesteuert werden kann, dann sollte diese Entwicklung zu positiven Ergebnissen führen. Dies könnte auch für andere Neuerungen gelten, bei denen es auch im Westen Defizite gibt, wie sie im Marketing, der Kundenorientierung, der Nutzung moderner Kommunikations­technik, der örtlichen Flexibilität, neuen Formen der Kooperation und anderem, vorliegen.

 

6.6               Zukunftsszenarien zur wirtschaftlichen und politischen Entwicklung

Nachfolgend einige Möglichkeiten der zukünftigen Entwicklung in Ostdeutschland. Es geht hierbei weniger um Vorhersagen, als um das Aufzeigen von Chancen und Gefahren, wie sie bei Weiterentwicklung gegenwärtiger Trends vorliegen.

‘Tal der Tränen’ wird unvermeid­bar sein

 
Die Szenarien werden jeweils schlagwortartig mit einer Überschrift beschrieben und im nachfolgenden Absatz die Ursachen für diese mögliche Entwicklung kurz benannt. Sie werden in den folgenden Abschnitten mit der Gegenwartsform beschrieben. Hier­­mit soll unterstrichen werden, daß es sich in erster Linie um mögliche Zukunftsszenarien handelt und weniger um Prognosen, bei denen man die Zukunftsform zur Beschreibung des kommenden wählen würde. 

Mit den gegenwärtigen Trends ist auch im zuerst dargestellten optimistischen Szenario der Weg durch ein ‘Tal der Tränen’ unvermeidbar. Möglichkeiten für eine weniger schmerzhafte Alternative wurden in den letzten Jahren verpaßt. Ich fürchte allerdings, und damit bin ich doch bei einer Prognose angekommen, daß die ostdeutschen Wähler sich für dirigistische Eingriffe durch die von ihnen zu wählenden Politiker entscheiden werden. Hierbei fragt sich auch, welche der ostdeutschen Parteien denn keine starke Präferenz für staatliche Lenkung der Wirtschaft hat. Dies wird sich in der Krise, wenn die zu verteilenden Finanzen knapper werden, noch deutlicher zeigen. Als Konsequenz erscheint mir die wahrscheinlichere Zukunft näher an dem zweitgenannten, pessimistischen Szenario zu liegen. 

Die nachfolgende zeitliche Abfolge der Szenarien ist natürlich stark vereinfacht dargestellt. Eine positive Entwicklung müßte durch richtige Entscheidungen zur Steuerpolitik, Beschäftigungspolitik, usw. flankiert werden. Die negative Entwicklung ist weniger anspruchsvoll. Für diese brauchen wir nur so weiter zu machen.

 

6.6.1         Optimistisches Szenario

6.6.1.1     Arbeitslosigkeit steigt weiterhin drastisch an

Viele wirtschaftliche Aktivitäten, von technologieorientierten Existenzgründungen bis zu den Treuhandfirmen, haben durch hohe Subventionen lediglich eine Scheinblüte erlebt. Nach Wegfall oder Kürzung dieser Subventionen zeigt sich, daß die eigenständige Lebensfähigkeit nicht gegeben ist.

Hierzu gehört auch, daß Arbeitnehmer mit 80% des Westlohns in Betrieben arbeiten, in denen der Durchschnittsarbeitnehmer 50% der Produktivität seines Westkollegen hat. Dies führt zu dem Verlust von vielen Arbeitsplätzen.

Die Arbeitslosenrate steigt zuerst im gewerblichen Bereich drastisch an. Viele Unternehmen im Sekundär­bereich, d. h. Einzelhandel, Berater, Dienstleis­tun­gen usw., verlieren durch die mangelnde Kaufkraft der gewerblichen Arbeitnehmer dann ebenfalls ihre Existenzgrundlage.

6.6.1.2     Die Immobilienpreise fallen weiter

Das Absinken der wirtschaftlichen Tätigkeit führt zu stark fallender Nachfrage nach Gewerbegrundstücken und sinkender Bautätigkeit, auch für Privatwohnungen und - häuser. Als Folge sinken die Preise. Der Preisverfall wird aufgrund der Immobilienverkäufe von finanzschwachen Kommunen verstärkt. Verstärkend wirken auch die Verkäufe von Immobilienbesitzer, die nicht mehr an spätere Preisanstiege glauben oder die das Geld vom Verkauf dringend benötigen.

6.6.1.3     Wandernde Arbeitskollektive

Kleine Arbeits­kollektiv - GmbHs mit marktgerech­ten Bezahlungen für geleistete Arbeit und nicht für Anwesenheitsstunden.

 
Die Arbeitslosen organisieren sich in GmbHs und bieten ihre Arbeitskraft gemeinsam für zeitlich befristete Auftragsbearbeitungen an. Sie arbeiten hierbei als Gesellschafter mit dem Status von Selbständigen. Ihre Erträge erzielen sie aus den Aufträgen (s. Abschnitt 6.5.2). Ihre Einkommen werden somit aus den erzielten Leistungen und nicht aus tariflich vereinbarten Gehältern erwirtschaftet. Sie können somit Ihre Preise selbst aushandeln und müssen ihre Arbeit nicht deshalb verlieren, weil sie zu teuer sind.

6.6.1.4     Im Tiefpunkt liegen gute Voraussetzungen für produzierendes Gewerbe vor

Mit tiefen Immobilienpreisen und dem Angebot preisgünstiger Arbeit durch die Arbeitskollektive werden die Möglichkeiten für Gewerbeansiedlungen interessant. Zwar fehlt in der unmittelbaren Umgebung noch die Kaufkraft, aber es kann deutlich kostengünstiger als in Westdeutschland oder auch anderen europäischen Ländern produziert werden.

6.6.1.5     Nichtakademische Westdeutsche kommen nach Ostdeutschland

In den neugebildeten Produktionsbetrieben besteht nach wie vor Mangel an westlichem Produktions - Know-How. Dies Problem konnten in vergangenen Jahren weder die akademischen Führungskräfte aus dem Westen lösen, noch die außerbetriebliche Weiterbildung durch das Arbeitsamt, in der von Ostdeutschen oder von Theoretikern unterrichtet wurde.

Westdeutsche Praktiker erhalten nach dem Sinken der Immobilienpreise in Ostdeutschland die Möglichkeit der Realisierung des Traumes eines Einfamilienhauses mit 1000 qm Grundstück. Dies ist in den übervölkerten westlichen Ballungsgebieten längst nicht mehr möglich. Dies wird ein Hauptanreiz für viele, nach Ostdeutschland zu gehen.

6.6.1.6     Neue mittelständische Produktionsunternehmen sind Motor des Wachstums

Gleich­gewicht zwischen Markt und Arbeitsein­kommen?

 
Basierend auf der guten Infrastruktur, d.h. guten Straßen­verbindungen und modernen Telekommunikationsnetzen bilden sich hocheffektive Netzwerke von kleinen- und mittleren Unternehmen. Diese realisieren im Verbund Arbeitsteilung zu Innovation, Marketing, Vertrieb, Produktion und Distribution. Mit Formen des Kleinunternehmertums und freier Mitarbeit wird ein Gleichgewicht zwischen Markt und Arbeitseinkommen erreicht. Dies führt zur Vollbeschäftigung. 

 

6.6.2         Pessimistisches Szenario

6.6.2.1     Zunahme staatlicher Eingriffe

Ostdeutsche Politiker greifen angesichts der Probleme zunehmend regulierend ein. Die Grundstücke werden mit Mindestpreisen oder hohen Transfersteuern gegen “Billigverkauf” gesperrt. Zunehmende Mittel werden für künstliche Beschäftigungsprogramme aufgewendet. Der Anteil der Wirtschaftsbereiche, die durch Subventionen und Regulierungen von der öffentlichen Hand kontrolliert werden, nimmt ständig zu.

6.6.2.2     West - Ost Transfers werden gedrosselt

Ostdeutsch­land als autonomes Land am Rande der EG ?

 
Der öffentliche Geldbedarf steigt, aber Westdeutschland drosselt als Reaktion den West - Ost Transfer. Die offene Konfrontation zwischen West und Ost bricht aus (s. hierzu Abschnitt 6.6.3). Ostdeutschland erringt eine Quasi - Autonomie [23]. Der anhaltende Exodus von leistungsbereiten jüngeren Leuten von Ost nach West verschärft die Lage zusätzlich. Die Einkommen sinken in Ostdeutschland auf Tiefststände.

6.6.2.3     Ostdeutschland wird “portugalisiert”

Schließlich müssen auch die Gehälter im öffentlichen Dienst und die Renten in Ostdeutschland dramatisch gekürzt werden. Ostdeutschland ist nahe der Situation eines separaten Staates am Rande der EG (wie Portugal......).

6.6.3         Zyklen und Wechselwirkungen

Ein Rückblick auf die verschiedenen Trends und Entwicklungen in Ostdeutschland seit 1990 zeigt deutliche Zyklen.

Zunächst gab es starke Zuneigung und Orientierung zum Westen, die sich dann in hohe Abneigung wandelte. Der Tiefpunkt dieser West - Abneigung ist meiner Meinung nach etwa im Sommer 95 durchschritten worden. Seitdem findet eine wieder ansteigende Orientierung Richtung Westen statt. Auch die spürbare Antipathie für ‘Wessis’ ist heute längst nicht mehr so stark wie vor ein bis eineinhalb Jahren.

Zyklische Schwankungen bei Immobilienpreisen und bei Westorientierung und -ablehnung

 
Die Immobilienpreise waren zunächst sehr schnell angestiegen. Diese Steigerungen kamen jedoch etwa Herbst 95 zum Stillstand. Seit Sommer 96 ist der Glaube an den schnellen Aufschwung Ost so deutlich gesunken, daß auch die Immobilienpreise jetzt beschleunigt verfallen. Dies wird sich mit dem Wegfall der Sonderabschreibungen für Mietwohnungsbau ab 97 sehr deutlich zeigen.

‘Blühende Landschaften’ -
Sollten sie mit Lastwagen nach Ostdeutschland gebracht werden?

 

Jetzt kommt die West - Reaktion

 
Im Westen waren die Bürger bisher kaum von den Wiedervereinigungsturbulenzen berührt. Die gefühls­mäßigen Reaktionen waren nicht so stark wie im Osten und die Zykluszeiten dieser Reaktionen sind meiner Meinung nach größer. Eine Zahl wie 1000 Milliarden DM West - Ost Transfer überstieg auch das Vorstellungsvermögen der Leute und berührte sie bisher nicht so stark. Nach einer langen Zeit distanziert positiver Betrachtung der Ereignisse im Ostdeutschland der letzen Jahre schwillt aber nun der Ärger über die Entwicklungen langsam an. Im Gegensatz zu den Ostdeutschen haben die Westdeutschen an die positiven Nachrichten über den ‘Aufbau Ost’ geglaubt. Sie glaubten auch lange daran, daß ihre Landsleute im Osten, ähnlich wie sie selbst vor über 3-4 Jahrzehnten, mit etwas Unterstützung aus dem Westen ein ‘Wirt­schafts­wunder’ zustande bringen würden. Nun wird aber langsam klar, daß die Worte von Bundeskanzler Kohl von den ‘blühenden Landschaften’ im Osten scheinbar so verstanden wurden, daß diese mit Tiefladern in den Osten gekarrt werden sollen. Die Reaktion ist jetzt langsam aber stetig zunehmende Ablehnung. Sichtbare Zeichen hierfür sind u. a., daß im Sprachgebrauch im Westen jetzt immer öfter für ‘Neue Bundesländer’ Begriffe wie ‘Gebiet der ehemaligen DDR’ oder einfach ‘Ex-DDR’ zu hören sind. Hierbei spielen auch die Medien keine geringe Rolle. Der Spiegel [24] berichtete jüngst über die Entwicklungen im Osten und hob hierbei das Trennende hervor. U.a. wurde berichtet, daß ‘die Gräben, vor allem im mentalen Bereich’ sich ‘vertieft’ haben. In meinem Be­kannten­kreis habe ich viele Westdeutsche, die nach einiger Zeit im Osten kürzlich zurück in den Westen gegangen sind. Neue Westdeutsche im Osten kenne ich nur im Zusammenhang mit der Hauptstadtfunk­tion von Berlin.

Wie in einer Demokratie üblich, ist zu erwarten, daß sich in nächster Zukunft West - Politiker zu Wort melden werden, die aus der wachsenden Ungeduld mit dem Osten ihren Vorteil ziehen wollen. Dies um so mehr, da nicht alle Politiker Patrioten sind. Hiermit wird voraussichtlich der Anstieg der Ost - Ableh­nung in der nächsten Zeit noch zusätzlich verstärkt werden. Da diese Entwicklung gerade erst begonnen hat, würde ich aus dem Verlauf der Zyklen auf einen Höhepunkt der Ost - Ablehnung im Westen in etwa zwei Jahren schließen.

Die beschriebenen Schwankungen sind bisher den Ein­schwingvorgängen nach einer starken Änderung ähnlich, wie man sie aus der linearen Regelungstechnik kennt. Natürliche Systeme sind aber nicht linear [25]. Bei ihnen kommt es zu deutlichen Wechselwirkungen zwischen den verschieden schwingenden Größen. Bei Überschreitung von Maximalwerten der Differenzen zwischen den in Abhängigkeit zueinander stehenden Größen kann die Spannung so groß werden, daß die Systeme sich schlagartig verändern [26]. Das heißt, wenn die Differenzen der Interessen zwischen Ost- und Westdeutschland zu groß werden, ist ein Bruch der Solidarität zwischen beiden Teilen wohl eher wahrscheinlich.

Natürliche Systeme sind nicht-linear und können plötzlich umschlagen

 
Es bleibt nur zu hoffen, daß im nächsten Jahr eine deutliche Bewegung in Ostdeutschland in Richtung West - Gesellschaft einsetzt. Nur hiermit kann verhindert werden, daß bei zunehmender Ost - Ablehnung im Westen die Spannungen nicht zu groß werden. So wie Westdeutschland in den letzten Jahren zur Wiedervereinigung stand, so ist es jetzt an den Ostdeutschen, sich deutlich hier­zu zu bekennen. Hiermit kann Deutschland die bevorstehende West - Reaktion in Einigkeit überstehen.

 


7      Vier Jahrzehnte Kommunismus in Ost­deutschland und die Folgen

Die in Kapitel 4 beschriebenen Erfahrungen und Einschätzungen bei Begegnungen und im Zusammenleben mit Ostdeutschen geben ein vielfältiges, manchmal widersprüchlich erscheinendes Bild. Zum besseren Verständnis ist es erforderlich, diese in ei­nen Gesamtzusammenhang zu rücken.

Hierfür werden nachfolgend zunächst einige Werte und Maßstäbe aufgezeigt, die im Leben der Ostdeutschen (und der Menschen in anderen kommunistischen Ländern) in den vergangenen Jahrzehnten prä­gend waren. Es wird in Abschnitt 7.1 absichtlich auf Zitate aus veröffentlichten Quellen weitgehend verzichtet. Es gab im real existierenden sozialistischen Alltag eine tiefe Kluft zwischen den propagierten und den angewandten Werten. Es macht somit wenig Sinn, sich alleine auf zitierbare Propaganda zu berufen.

Gleichwohl hat die ständige politische Propaganda im Laufe der Jahrzehnte eine stark erziehende Wirkung erzielt und wirkt bis heute sehr deutlich nach. Um die Grundlage des Menschenbildes im Sozialismus zu verstehen, folgt eine Auseinandersetzung mit der Philosophie des Kommunismus in Abschnitt 7.2.

Die Wirkungsmodelle, mit denen der Neurologe E. de Bono die Funktion des Gehirns erläutert, werden in Abschnitt 7.3 kurz vorgestellt. Sie erklären sehr gut, wie auch heute noch die gleichen Informationen bei West- und Ostdeutschen zu völlig verschiedenen Wahrnehmungen und Schlüssen führen können.

7.1               Einige Anmerkungen zum Alltag im Kommunismus

7.1.1         Kollektiv

Leben im Kollektiv:
in der Krippe, im Kindergarten, in der Schule, in der Arbeitsbrigade

Die Erziehung für das Kollektiv begann bereits in der Kindertagesstätte oder bei einem hohen Prozentsatz der DDR - Bevölkerung bereits in der Kinderkrippe. In vielen Fällen wurden Säuglinge ab sechs Wochen Alter tagsüber den staatlichen Erziehungsstätten übergeben, damit die Mütter ihrem Beruf nachgehen konnten [27]. Es mag die Folgen einer derartigen Erziehung illustrieren, wenn ich aus einem mir bekannten Fall berichte, bei dem Zweijährige in einer Kinderkrippe in den neuen Bundesländern alle um 11 Uhr 45 aufs Töpfchen gesetzt werden. Die Früchte dieser kollektiven Gleichschaltung bestehen darin, das dann tatsächlich um 11 Uhr 50 jedes spätsozialistische Gemeinschaftsmitglied dann sein Häufchen gelegt hat. Sicher kann man jetzt ruhig grinsen über ein derartiges Episödchen, aber sträuben sich einem nicht auch die Nackenhaare, wenn man überlegt, wie sich eine derartige Gleichschaltung im späteren Leben fortsetzen kann?

Die Erziehung für das Kollektiv war das erklärte Ziel des DDR  Erziehungs - und Bildungssystems von frühesten Kindesbeinen an. Dies stellt einen krassen Gegensatz zu westlichen Vorstellungen dar, bei denen sich das Individuum frei entwickeln soll. Möglicherweise wird die Betonung der individuellen Entwicklung im Westen manchesmal übertrieben. Dies zeigt aber um so mehr die große Kluft, die heute zwischen West - und Ostdeutschen besteht. Ohne hierbei behaupten zu wollen, daß ich die Folgen dieses Kollektivismus voll erfassen kann, sind doch deutliche Unterschiede zu westlichem Verhalten aufgefallen. Diese sollen in späteren Abschnitten mit Beispielen aufgezeigt werden.

 

7.1.2         Ziele und Visionen

propagierte Wirklichkeit und 'wirkliche' Wirklichkeit

In vier Jahrzehnten Sozialismus hatte sich die Schere zwischen der propagierten Wirklichkeit und der 'wirklichen' Wirklichkeit immer weiter geöffnet. Während Chruschtschow 1960 noch die Amerikaner mit ihrem Lebensstandard überholen wollte, hatten die Bürger im sozialistischen Einflußbereich in den achtziger Jahren mit dem Widerspruch ihrer Osteinkommen und den Intershops zu leben, in denen attraktive Ware nur mit dem Geld des Klassenfeindes gekauft werden konnte. Es war alltägliche Praxis, daß auf vielen beruflichen und gesellschaftlichen Ebenen propagandistische Sprüche geklopft wurden, an die niemand glaubte.

 

7.1.3         Wahl der einzusetzenden Mittel

DDR Plakat:
‘Ein Gewehr ist eine gute Sache, wenn es für eine gute Sache ist’

 
Der Staat übte seinen Bürgern vor, daß es bei der Auswahl der einzusetzenden Mittel einzig darauf ankam, daß es für die richtige Sache war. Und das war ja bei ihm, per Definition der Partei als legitime Führerin der Massen, immer der Fall. Ebenso mußten alle Maßnahmen von inneren und äußeren Feinden verwerflich sein. Für Toleranz Andersdenkender oder der Möglichkeit der Entmachtung durch demokratische Wahl war dabei kein Platz.

Getroffene Maßnahmen waren allein dadurch, daß sie gegen den Feind gerichtet waren, legitimiert. Hierbei gab es kaum moralische Grenzen. Dies um so weniger, da man sich bis zur Erreichung des sozialistischen Endzustandes im Kampf mit dem Klassenfeind befand - und im Krieg sind ja bekanntlich faßt alle Mittel erlaubt.

Diese Grundhaltung spiegelt sich in einem gesellschaftlichen Leben wieder, in der es wenig moralische Schranken im Umgang mit Störenfrieden, Konkurrenten oder Andersdenkenden gab. Hinzu kommt ein Gesellschaftsbild, in dem für die Erreichung von allen möglichen Zielen der 'Kampf' propagiert wurde. So wurde z. B. 1985 über Wochen in einem Brigadebuch eingetragen, daß das gesamte Arbeitskollektiv erklärtermaßen dafür 'kämpfen' wollte, daß eine Institution ihren Namen, natürlich nach einer sozialistischen Persönlichkeit benannt, behalten wollte. Im Buch '...Materialismus', S 224 (s. Abschnitt 7.2.1), findet man hierzu: ' .. daß das Alte nicht von selbst abtritt, sondern daß in der Gesellschaft um die Durchsetzung des Neuen stets gekämpft werden muß'.

 

7.1.4         Klassenfeind

Dieser Kampf in der Gesellschaft war die Konsequenz eines Menschenbildes, welches bestimmte Grup­pen in der Gesellschaft zu Klassenfeinden erklärt und es erlaubt, diese mit allen Mitteln zu bekämpfen. Hierzu gehört, daß man dem Klassenfeind sein Eigentum stehlen darf, ohne je danach zu fragen, wie er dies erlangt hat, oder daß man Abtrünnige, die der sozialistischen Gesellschaft entfliehen wollen, an der Grenze erschießen darf. Querulanten, die sich nicht geschmeidig in das Kollektiv eingefügt hatten, wurden ohne Skrupel ins Abseits gestoßen und, um es mit amerikanischen Worten zu sagen, um ihr 'Recht auf das Streben nach Glück' gebracht.

 

7.1.5         Soziale Sicherheit und Mangelwirtschaft

Arbeitslosigkeit und Wohnungsverlust konnte dem DDR Bürger praktisch nicht widerfahren. Zusätzlich gab es ein hohes Maß sozialer Gleichheit, da es kaum Unterschiede bei den Einkommen und der Möglichkeit, sich mit der DDR - Mark ‘etwas zu leisten’ gab.

Dem Berufstätigen konnte es aber leicht passieren, daß er von der Verwaltung in einen Beruf gesteckt wurde, der nichts mit seinen Wünschen zu tun hatte. Bei der Versorgung mit Konsumgütern kam es bis zuletzt zu häufigen Engpässen. Die DDR Bürger brachten deshalb einen Teil ihrer Zeit damit zu, durch die Einkaufsläden zu streifen und nachzuschauen, ob nach einer Wartezeit von einem halben Jahr jetzt endlich mal wieder dringend erwünschte Waren wie schöne Tassen, Kakao, die sprichwörtliche Banane oder ein vernünftiges Paar Schuhe auftauchten. Falls plötzlich etwas Gesuchtes da war, mußte man nämlich schnell sein, da die begehrten Artikel genauso schnell wieder aus den Auslagen verschwanden. In vielen Betrieben war es normal, daß nach Bekanntwerden der Auslage besonderer Waren sofort ein Brigademitglied während der Arbeitszeit freigestellt wurde, um sich in die Schlange zum Einkaufen einzureihen. Natürlich wurde dann auch auf Vorrat gekauft, um die Gefahr zu vermeiden, daß bestimmte Dinge ausgingen und dann später nicht mehr beschafft werden konnten. Hierbei wurden, auch aufgrund der niedrigen Preise, dann auch Dinge gekauft, die eigentlich gar nicht gebraucht wurden. Dieses durch die Knappheit verursachte Kaufverhalten verschärfte den Mangel dann noch zusätzlich.[28]


7.1.6         Verteilungsgesellschaft und Verteilungskampf

Wettbewerbs­gesellschaft im Westen und Verteilungsgesellschaft im Osten

Im Westen wird häufig von der Wachstums- und Überflußgesellschaft gesprochen. Dies meint aber die Wirkung, deren Ursache darin liegt, das im Westen eine Wettbewerbsgesellschaft besteht. Diese konnte in den vergangenen Jahrzehnten die materiellen Bedürfnisse ihrer Bürger sehr effektiv erfüllen. Im Unterschied dazu können die Länder des kommunistischen Machtbereichs als Verteilungsgesellschaften bezeichnet werden.

Mangels freiem Unternehmertum konnten in diesen Ländern keine Innovationen in den wirtschaftlichen Alltag eingebracht und als Motor des Fortschritts realisiert werden. Natürlich wurde dies propagandistisch angestrebt, aber diese Innovationen hätten ja von Staatsangestellten durchgeführt und realisiert werden müssen. Im Westen wissen wir, das dies unmöglich ist und behalten diese Aufgabe den freien Unternehmern vor. In der freien Wirtschaft gibt es Regularien, in denen durch Versuch und Irrtum auf Marktbedürfnisse stets sehr schnell entsprechende Angebote folgen und somit eine positive Wirtschaftsentwicklung erlauben.

In den Staatshandelsländern sollten die Ziele des Staates in mehrjährigen Wirtschaftsplänen erreicht wer­den. Aufgrund mangelnder Selbstregelungsmecha­nismen wurde dies mit sehr niedriger Effektivität durchgeführt. Die wirtschaftliche Leistung wurde bei der Erfüllung ungeheurer Rüstungsanstrengungen, der Bedienung der Nomenklatura aber auch bei breitgestreuten sozialen Wohltaten des Staates aufgezehrt. Zum letzten Punkt gehörten insbesondere die Anstrengungen des Staates für einen vollständigen Zugriff auf die Erziehung der Kinder.

Die Konsumgüter waren sehr knapp und wurden ziem­lich gleichmäßig an alle Bürger verteilt - abgesehen von den Privilegien der Nomenklatura, daß heißt der herrschenden politischen Schicht und den oberen Chargen der Staatssicherheit. Konsumgüter, Wohnungen und Au­tos wurden zugeteilt, wobei die Arbeitsleistungen der 'Werktätigen' mit dem Grad der Zuteilung sehr wenig zu tun hatte. Den staats­treuen Bürgern, die nach langen Jahren des Wartens endlich ihre Plattenbauwohnung zugeteilt erhielten, dämmerte erst später nach der Wende, daß sie im Vergleich zu den Hausbesitzern die Dummen waren.

Zum Neubau eines Hauses bedurfte es in der DDR sehr guter Beziehungen und beträchtlicher diplomatischer und organisatorischer Künste, um im komplizierten Beziehungsgeflecht bei den jeweiligen Angestellten an die notwendigen Baustoffe zu kommen.

In diesem Verteilungs­system machte es für die breite Masse keinen Sinn, durch Arbeit nach Wohl­stand zu streben. Hingegen ließen sich Karriereziele erreichen, bei denen die eigene Geltungssucht befriedigt und Herrschaft über andere erlangt werden konnte. Diese Gründe und, das soll hier nicht abgestritten werden, auch manchmal Idealismus, waren die Motivation für besondere Anstrengungen um Karriereziele zu erreichen. Diese Postenbesetzer brauchten allerdings kaum mit Kollegen zu konkurrieren, die weniger gel­tungssüchtig waren und sich in ein bequemes Berufsleben einrichteten und ihre Energie in den Ausbau ihrer Datschen oder in die Beschaffung von Trabant - Ersatzteilen o. ä. steckten.

Die DDR - Bürger erwarben beträchtliche Fähigkeiten im Verteilungskampf. Materielle Vorteile konnten erlangt werden durch: 'Organisation' des Erwünschten; sofortiges Losrennen, wenn gewünschte Waren irgendwo im Angebot waren (wobei alles Andere fallen gelassen werden konnte); durch geduldiges Schlangestehen.

‘Dialektischer Materialismus’ ist die Grundphiloso­phie des ML

Wenn es schon kaum möglich war, die Wünsche nach zusätzlichen Waren zu befriedigen, so war es doch möglich, zumindest den eigenen Arbeitsanteil zu minimieren. In den Firmen gab es ein wahres Feierunwesen, bei dem jeder Geburtstag oder andere Anlässe während der Arbeitszeit ausführlich befeiert wurden. Zusätzlich wurden viele Anlässe zu Freistellungen von der Arbeit gefunden, wie parteinahe Veranstaltungen, Amtgänge, u. s. w.. Auch die Intensität der Arbeit, d. h. die Qualität und Quantität konnten nahezu beliebig abgesenkt werden. Bei völliger Arbeitsplatzsicherheit und fehlender Belohnung für höheren Arbeitseinsatz gab es keine Motivation für größere Anstrengungen. Gegenstand des Arbeitslebens waren die persönlichen Beziehungen im Kollektiv und nicht das eigentliche Produkt oder die Dienstleistung.


7.2               Marxismus - Leninismus (ML) und Materialismus

7.2.1         Philosophie des ML

Viele Ursachen für die in Abschnitt 7.1 aufgeführten Einzelpunkte zum Verhalten und den Normen der Menschen in kommunistischen Ländern finden sich im kommunistischen Weltbild und seiner Lehre wieder. 

Natürlich kann hier nicht der Platz sein, um sich ausführlich mit der Theorie des Marxismus - Leninismus auseinanderzusetzen. Aber dies war schließlich Pflichtfach in Schule und Studium und hat das Leben in den kommunistischen Ländern nachhaltig geprägt. Darum möchte ich im folgenden einige Literaturstellen diskutieren, die interessanten Aufschluß über den theoretischen und philosophischen Hintergrund der kommunistischen Gesellschaft geben. 

Der 'Dialektische Materialismus' ist erklärtermaßen die 'Philosophie des Marxismus - Leninismus' (Es wäre unsinnig, hier 'war' statt 'ist' zu sagen. Die Nachfolgepartei der herrschenden Partei der kommunistischen DDR ist heute eine starke politische Kraft in Ostdeutschland). Das Lehrbuch 'Dialektischer und historischer Materialismus' [29] gibt hierüber detaillierte Auskunft. Nachfolgend werden die Grundlagen dieser Philosophie vorgestellt und diskutiert. Die Aussagen dieser Grundlagen lassen Schlüsse auf viele Erscheinungen im Sozialismus und eine Diskussion elementarer Unterschiede zum westlichen Menschenbild zu.

Zusätzlich habe ich auch intensiv in dem aus dem Russischen übersetzten Buch 'Grundlagen des Marxismus - Leninismus' [30] gelesen. Nachfolgend werde ich mich an einigen Stellen auch auf die dort gefundenen Aussagen beziehen [31].

 

7.2.2         Materialistische Dialektik

Die Kapitel 1 und 2, die einen Überblick zum Inhalt des marxistisch - leninistischen (ML) Grundlagenstudium geben, und dann insbesondere Kapitel 7 'Die Grundgesetze der materialistischen Dialektik' im obengenannten Buch '....Materialismus' scheinen ge­eignet, um das Prinzip dieser Lehre zu verstehen. Hierbei muß erwähnt werden, daß das Lehrbuch zum gleichnamigen Kurs im ML - Grundlagenstudium an den Hochschulen der DDR geschrieben wurde. Wer so richtig in diese Materie eintauchen möchte (wer jetzt Ironie hört, der hört richtig), der kann dann auch noch die zum Grundlagenstudium gehörenden Bücher 'Politische Ökonomie des Kapitalismus und des Sozialismus' und 'Wissenschaftlicher Kommunismus' studieren. Das Grundlagenstudium war Pflichtfach aller Studierenden. Es ist davon auszugehen, das diese Theorien und deren Widerspiegelung und ständige direkte und indirekte Propagierung im Alltag tiefe Spuren in Bewußtsein und Wahrnehmung der Ostdeutschen hinterlassen hat (s. dazu auch Kapitel 7.3).

Im Buch wird immer wieder betont, daß es sich um eine 'wissenschaftliche' Lehre handelt. So wie die Naturwissenschaften auf die von den Menschen zur Zeit erkannten Naturgesetze aufbauen, so baute der 'ML [32]  - die wissenschaftliche Weltanschauung der Arbeiterklasse' sein ganzes Ideengerüst auf einigen 'Grundgesetzen' auf, die von Marx und Engels 'erkannt' und formuliert worden waren.

Die Grundgesetze zur materialistischen Dialektik versuche ich wie folgt zusammenfassend und verkürzt wiederzugeben:

1.     'Das Gesetz des Umschlagens quantitativer Veränderungen in qualitative und umgekehrt'. Hiernach folgt immer zwangsläufig eine sprunghafte Systemänderung, nachdem sich eine Zeitlang im bestehenden System bestimmte Wachstums- oder Schrumpfungsprozesse fortgesetzt hatten, die aber nur quantitativ waren. Für den Kapitalismus bedeuted dies, daß er qualitativ nicht durch Reformen geändert werden kann, da er immer auf dem Grundübel des Produktivkapitals in Privathänden beruht, sondern das der Systemwechsel mit revolutionärer Gewalt vollzogen werden muß.

2.     'Das Gesetz der Einheit und des Kampfes der Gegensätze'. Dies ist, wie Lenin formulierte, der Kern und das Wesen der 'Dialektik'. Es meinte hierbei, das Gegensätze sich inhaltlich bedingen und die durch den Gegensatz hervorgerufene Span­nung als Ursache aller Bewegung und Entwicklung besteht. Bourgeoisie und Proletariat sind somit Gegensätze, die sich gegenseitig bedingen, d. h. das Eine kann ohne das Andere nicht existieren - in der veralteten Gesellschaftsform 'Kapitalismus', wohlgemerkt. Diese Gegensätze stehen immer im Kampf miteinander, bis dann, siehe oben, zwangsläufig die qualitative Systemänderung kommt.

3.     'Das Gesetz der Negation der Negation'. Mittels Verneinung (Negation) des Alten spitzt sich der Kampf der Gegensätze in einem sprungartigen Umschlag zu dem Systemwechsel zu. Nach Marx und Engels ist dies eine dialektische Negation, bei der nach sorgfältiger Überprüfung das Brauchbare aus dem alten, abgeschafften System übernommen wird. Auf dieser theoretischen Grundlage können die vom Kapitalismus geschaffenen Produktionsmittel, d. h. hauptsächlich die Industriewerke, übernommen werden. Sie werden dann natürlich von den Vertretern der Arbeiterklasse geleitet und nicht mehr von den früheren bürgerlichen Besitzern. Auch eine Übernahme von brauchbaren Elementen der bürgerlichen Kultur ist möglich, diese ist dann aber zügig zu einer sozialistischen Kultur 'weiterzuentwickeln'. Mit der 'Negation der Negation' ist gemeint, daß das neue System seinerseits nach einiger Zeit wieder Ablösung findet. Somit kommt es zu Wiederholungen bei den Systemformen die sich in der materiellen Welt in ständiger Folge ablösen. Diese ständige Entwicklung liegt aber nicht auf einem Kreis, da das Element der 'Dialektik' die Ursache für eine ständige Weiterentwicklung zu höheren Systemen hin ist.

Hegel vertrat die idealistische Philosophie und
Marx die materialistische Philosophie

Marx hatte hierbei das Denkgerüst des großen deutschen Philosophen G. W. F. Hegel (1770 - 1831) übernommen. Die Hegelsche Philosophie war bei des­sen Tode die allgemein verbreitete Lehrmeinung in Deutschland. Für Marx, der seine Arbeiten bis et­wa 1850 veröffentlicht hatte, lag es somit nahe, die von Hegel angewandte Argumentationsweise zu über­nehmen.

Hegel: Fortschritt durch dialektischen Prozeß, d.h. Dialog von These und Antithese mit der Synthese als Ergebnis

 

Marx: Fortschritt durch Kampf der Gegensätze und Negation des Alten

Hegels Philosophie ist im Gegensatz zum Materialismus 'idealistisch'. Sie geht davon aus, daß zunächst ein 'absoluter Geist' die Welt entwickelt und die materielle Welt Repräsentation dieses Geistes ist. Nach Hegel geschieht die Evolution von Ideen in einem dialektischen Prozeß, d. h. durch den Dialog von These und Antithese. Das Ergebnis dieses Konfliktes ist die Synthese. Bei dieser geistigen Auseinandersetzung zwischen zwei Standpunkten wurde somit ein dritter, höherwertiger Standpunkt gefunden. Dieser muß sich dann später weiteren Auseinandersetzungen mit anderen Thesen stellen, wobei jeweils höherwertige Ergebnisse erzielt werden. Dies sei das Prinzip der Entwicklung, die aufgrund des dialektischen Prozesses stetig noch oben gerichtet ist.

Der dialektische Materialismus  geht auch von einer dialektischen Auseinandersetzung zwischen den ver­schiedenen Entwicklungsmöglichkeiten aus. Die­se fin­det allerdings in einer unbeseelten, rein materialistischen Welt statt und ist auch dort der Motor ständiger Entwicklung. Auch diese Entwicklung sei gerichtet und vollzieht sich Schritt für Schritt zu stets höheren Systemen hin. Zwar wiederholen sich die Formen der Systeme, aber dies geschieht bei jeweils deutlich höheren Kulturstufen.  Hierdurch erhält die Entwicklung eine 'Spiralform' (dieser Ausdruck wurde von Lenin geprägt und in der ML Lehre benutzt, obwohl die beschriebene geometrische Form eine Wendel ist, d.h. die Form einer Schraubenfeder hat).

Neben dem Materialismus als Gegenteil des Idealismus fällt auch auf, daß Marx und Engels auf das Ergebnis Synthese, wie es Hegel verwendet, verzichteten. Hiermit hätte ja auch nicht der Sprung vom kapitalistischen zum kommunistischen System begründet werden können. Im obigen Punkt 1 wird behauptet, daß nach quantitativen Änderungen in einem System stets die sprunghafte, revolutionäre Änderung in eine neue Qualität folgen muß. Hegel hat hingegen eine Evolution der Ideen als Motor des Fortschritts beschrieben. Die Philosophie des ML lehnt somit in ihrer Grundanlage den Kompromiß ab. Wie bei 3. beschrieben, bedeutet ihr dialektisches Element die Bereitschaft zur Übernahme von brauchbaren Elementen der alten, revolutionär beseitigten Systeme. Keinesfalls wäre sie jedoch bereit, Abstriche an der Idee der Diktatur der Proletariats zu machen. Scheinbare Kompromisse, wie die Einladung an Sozialdemokraten zur Zusammenarbeit, sind somit nur taktische Maßnahmen zur Erreichung des Endziels.       

Nun lassen sie uns das Ganze diskutieren. Systeme ändern also von Zeit zu Zeit ihre Qualität. Sie können sich hierbei komplett verändern. Diese Veränderungen sind häufig sprungartig. Das ist wahr. - Marx schrieb diese Überlegungen etwa in der Mitte des vorigen Jahrhunderts auf. Damals vollzog sich gerade die industrielle Revolution. Die Mechanik triumphierte. Die französische Revolution hatte bereits vor mehr als 50 Jahren stattgefunden. Auf Grund dieses Ereignisses war die Erkenntnis, daß sich Qualitäten sprunghaft ändern können, wenig verwunderlich. Ebenso sprunghaft vollzogen sich die Änderungen durch die Industrialisierung. Bauern und Handwerk sanken stark in ihrer Bedeutung. Arbeitende Menschen wurden nicht mehr in Zünften und Leibeigenschaft in Abhängigkeit gebunden, sondern mußten sich bei dem neuen, sehr schnell zu Reichtum gekommenen Industrieadel verdingen.

Die Einheit der Gegensätze spiegelt den ständigen Kampf von Gut und Böse, ein Dauerthema der Romantik, wieder. Dies entspricht auch dem Zeitgeist, der Mitte des letzten Jahrhunderts herrschte.

Im ML wurde das für 1850 moderne Weltbild konserviert

Die Kommunisten schworen sich auf diese für 1850 modernen und zeitgemäßen Gedanken ein und wiederholten diese Lehren mit passend ausgesuchten Beispielen in dicken Büchern gebetsmühlenartig bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Im Buch '....Materialismus' wurden auf der Basis der Grundgesetze 'wissenschaftliche Beweise' geführt, in denen die Richtigkeit des Kommunismus und das zwangsläufige Scheitern des Kapitalismus immer wieder betont wurden. Die Grundgesetze beschrieben ein rein mechanisches, materialistisches Weltbild, in dem der Mensch nicht durch Gebote eines höheren, geistigen Wesens behindert war. So durften die Regimebüttel lügen, stehlen, morden und Freiheit berauben, wenn es gegen den Klassenfeind ging.

Zweiter Weltkrieg nur als Ringen von Kommunismus und Faschismus ?

 
Mit dem Schwarzweiß - Weltbild der kämpfenden Gegensätze konnten einfache Perspektiven geschaffen werden. Immer war der zwangsläufige Sieg des Kommunismus stets die Aussage und die Objekte konnten beliebig passend herausgesucht werden. So war der zweite Weltkrieg allein das Ringen von Kommunismus und Faschismus, wobei die fortschrittlichen Kräfte des Kommunismus schließlich siegen mußten. Wir aufgeklärten Menschen sehen ein wesentlich diffizileres Bild einer sehr bunten Allianz gegen den expandierenden deutschen Militarismus. In Rußland gab es Kommunisten die um ihren Kopf kämpften, aber auch vor allen Dingen Patrioten, die die Invasion zurückschlagen wollten. In England Männer für die es seit Generationen das 'no surrender' (keine Kapitulation) gab. Aber auch eine Politik, bei der seit mehreren hundert Jahren mit 'ballads of power' stets die Hegemonialmacht auf dem Kontinent bekämpft hatte. Die Franzosen glaubten seit Generationen, wie die Deutschen, daß sie im anderen den Erzfeind hätten. Die USA und die Länder des Commonwealth kämpften aus angelsächsischer Verbundenheit wie im ersten Weltkrieg wieder gegen die Deutschen. Selbst dies ist ein stark vereinfachtes Bild und kann somit auch nur einen Teil der Wahrheit enthalten. Es zeigt aber doch, daß das Bild 'Kommunisten besiegen Faschisten' so vereinfacht ist und nur einen so kleinen Teil der Wahrheit enthält, daß es wohl bereits als Lüge bezeichnet werden kann.

Auf Grund seiner stark vereinfachten Natur eignet sich das Bild des Kampfes der Gegensätze mit gewaltsam wechselnden Qualitäten nur für revolutionäre Zeiten, in denen Systemänderungen herbeigeführt werden sollen. Dementsprechend groß sind die Schwierigkeiten der Autoren, in den Lehrbüchern auszuführen, welche Bedeutungen denn diesen ewigen Grundgesetze der ständigen Wechsel der Systeme in einer sozialistischen Gesellschaft haben. Tatsächlich kommen bei der Auseinandersetung mit diesem Thema im Buch ‘...Materialismus’ merkwürdige logische Purzelbäume und -Kopfstände heraus.

Vollendung des Sozialismus = Endstadium der Dissimilation

Eine Buchstelle hierzu fand ich herrlich komisch. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß der oder die Autoren an dieser Stelle entweder Deppen sein mußten oder vielleicht auch heimliche Widerstandskämpfer. Ich möchte ihnen das nicht vorenthalten: Zunächst wird die universelle Anwendbarkeit des Grundgesetzes, 'Einheit und Kampf der Gegensätze' wieder mal anhand eines Beispieles aus der Natur 'nachgewiesen'. Der Autor schreibt 'die Identität der Gegensätze kann sich in quantitativer Hinsicht als Wirkungsgleichgewicht oder Gleichgewicht der Kräfte darstellen. Wirkungsgleichheit der Gegensätze ist gegeben, wenn keine der Seiten des Widerspruchs ein Übergewicht über die andere hat. Das ist z. B. der Fall, wenn Organismen das Reifestadium ihrer Entwicklung erreichen; denn hier besteht zwischen Assimilation und Dissimilation ein dynamisches Gleichgewicht (zum Unterschied von der Dominanz der Assimilation im Wachstumsstadium und der Dissimilation im Zerfallsstadium).' Einen Absatz weiter schreibt der Autor dann 'bei der Identität der Gegensätze ist der Übergang ineinander, ihr Stellenwechsel, zu beachten. Er ist Ausdruck der Tatsache, daß die Gegensätze dynamischen Charakters sind. So existiert bekanntlich die Arbeiterklasse im Kapitalismus als beherrschte, niedergehaltene Klasse, während die Bourgeoisie die Herrschaft ausübt. Mit der Errichtung der Arbeiter - und Bauernmacht kehrt sich dieses Verhältnis um. Die Arbeiterklasse tritt als herrschende Klasse auf, die Bourgeoisie bis zur Aufhebung ihrer Existenz als beherrschte Klasse'.

Sie sehen lieber Leser, die Botschaft des Autors ist eindeutig. Der vollentwickelte Sozialismus gleicht mit der Abschaffung der letzten Reste der Bourgeoisie, d. h. im Endstadium der Dissimilation der Bourgeoisie, einer matschigen Frucht (....kicher...).

Da der oder die Autoren als Hochschulmitglieder der DDR ja keine Deppen gewesen sein können, kann es sich bei ihm/ihr oder ihnen also nur um Widerstandskämpfer gehandelt haben. Sie haben diese Staatskritik am Sozialismus so offen und unverblümt vorgetragen, daß sie wohl auch bereit waren, die Konsequenzen dieser tapferen Systemkritik zu tragen. Ich meine, wir sollten diese Wegbereiter der Wiedervereinigung jetzt umgehend feststellen, um sie dann unbefristet in den Staatsdienst zu übernehmen (wenn sie da nicht schon lange sind). Falls sie bereits im wohlverdienten Ruhestand sind, dürfte die Rente ja ohnehin angemessen hoch sein.

Probleme der ML - Theoretiker mit ihrer eigenen Lehre

Endgültig verheddert hat sich einer der Autoren [33] dann, nachdem er seitenlang ausgeführt hatte, daß die Systemwechsel in naturgesetzlicher Folge durch die ‘Negation der Negation’ stets eintreten, gleichgültig ob zum Guten oder zum Schlechten. Am Ende dieses Abschnitts führt er dann die Bedeutung des Gesagten für die sozialistische Gesellschaft auf. Nach kurzer, kaum merklicher Ratlosigkeit widerruft er dann tapfer das bisher gesagte zu der ewigen Gültigkeit der Grundgesetze des dialektischen Materialismus - aber lesen Sie selbst: 'Angesichts des bisherigen Verlaufs der Menschheitsgeschichte: klassenlose Urgemeinschaft - Klassengesellschaft - klassenlose kommunistische Gesellschaft (in der sich auf neuer, höherer Grundlage einige Züge der Urgemeinschaft wiederholen), könnte die Frage auftreten, ob die Entwicklung des Kommunismus nicht wieder durch eine auf dem Privateigentum beruhende Klassengesellschaft negiert werden könnte. Das wird nicht der Fall sein. Die Urgemeinschaft konnte sich nicht unbegrenzt auf der Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln entwickeln. Sie wurde durch ihren Gegensatz, eine Gesellschaft, die sich auf das Privateigentum gründet, negiert. Aber diese Gesellschaft konnte sich auf ihrer eigenen Grundlage ebenfalls nicht unbegrenzt entfalten. Deshalb wird die Klassengesellschaft durch die kommunistische klassenlose Gesellschaft ersetzt. Zum Unterschied von allen vorangegangenen gesellschaftlichen Systemen ist die kommunistische Gesellschaft in der Lage, sich auf ihrer eigenen Grundlage schrankenlos zu vervollkommnen, den Produktivkräften ständigen Spielraum für ihre Entwicklung zu gewährleisten und der materiellen und geistigen Kultur Entfaltungsmöglichkeiten ohne Grenzen zu geben.'

Auch hier gilt wieder, daß die ausgefeilte Logik dieser Argumentation nur als offene Opposition gegen die kommunistische Lehre interpretiert werden kann und unsere Bewunderung verdient. Schließlich sagt der Autor ja hier, daß die genannten 3 Grundgesetze entgegen den Aussagen von Marx doch nicht ewig wahr sind. Sonst würden sie ja auch zum baldigen Umsturz in der DDR auffordern. Vielleicht war der Mut hierfür aber doch nicht so groß, da die Autoren ja wissen mußten, daß die Studenten für den seitenlangen Fremdwörtersalat längst ihre Ohren auf Durchzug geschaltet hatten und der Führungsspitze mit der beschränkter Bildung die in der Logik versteckten oppositionellen Aussagen verborgen bleiben mußten.

 

7.2.3         Praktische Auswirkungen des dialektischen Materialismus

Die vorstehend aufgeführten drei 'Grundgesetze' bilden den theoretischen Hintergrund, der die Erklärungen für viele Vorgänge und Handlungsweisen im Kommunismus liefert.

Mao Tse Tung entfesselte seine Kulturrevolution in China, da er davon ausging, daß die Einheit und der Kampf der Gegensätze auch in einer sozialistischen Gesellschaft bestehen muß. Demnach sind regelmäßig revolutionäre Systemänderungen vonnöten, um den Systemwechsel zu einer höheren Qualität zu erreichen. Tatsächlich können die drei Grundgesetze nur als eine Revolutionstheorie gedeutet werden, da der 'schlechtere' Gegensatz ja die Bedingung für die Existenz des besseren Gegensatzes ist. Diese kämpfen dann stets miteinander und vollenden den Qualitätswechsel zu einem höheren System. Somit wollte Mao Tse Tung bereits den Sprung vom real existierden Sozialismus in eine höher angeordnete Form der kommunistischen Gesellschaft vollziehen. Die durch­weg negativen Auswirkungen seiner Kulturrevolution, bei der sämtliche Eliten proletarisiert werden sollten, sind bekannt.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß ein heutiger Kommunist keinerlei Probleme damit haben wird, mit einer ähnlichen Begründung den Systemwechsel vom real existierenden Sozialismus zum jetzigen westlichen Kapitalismus nur als einen Schritt auf der Spirale der Entwicklung zum nächsten System, dem dann vervollkommneten Kommunismus, zu begreifen. Von einem Scheitern des Sozialismus zu sprechen ist demgemäß dann wieder nur ein typisch bürgerliches Bild, während die von Lenin beschriebene Spirale der Systementwicklungen auf dem Weg zur weiter entwickelten sozialistischen Gesellschaft dann mal wieder die richtige Weltanschauung liefert. Mit einer derartigen Logik läßt sich dann leicht argumentieren, daß die richtig interpretierte Lehre die mangelnde Existenzfähigkeit des real existierenden Sozialismus als eine Unterstufe des Kommunismus geradezu vorausgesagt habe (weiteres hierzu im nächsten Kapitel).

Diese in der Lehre beinhaltete Logik hat auch eine Reihe von anderen Konsequenzen, die einige Erscheinungen in der kommunistischen Gesellschaft und Politik erklären.

Der ML glaubte, die Zukunft zu kennen

Wenn z. B. davon ausgegangen wird, daß das System Kapitalismus in seinen letzten Zügen liegt und es eines revolutionären Wandels zur Erreichung der nächst höheren Qualität, bzw. Systems bedarf, dann wird man folgerichtig diesen Systemwechsel gewaltsam herbeiführen. Wenn das alte System ohnehin für überholt erklärt wird, dann sind natürlich alle Methoden, auch höchst destruktive und gewaltsame Methoden erlaubt, um den ersehnten positiven Wechsel in seiner historischen Zwangsläufigkeit zu beschleunigen.

Im ML wurden Beweißschlüs­se zu der Richtigkeit der Lehre mit den Dogmen selbst geführt

Diese Lehre und ihre Konsequenzen hat gewiß keine liberalen oder toleranten Eigenschaften. Mit dem Glauben, über das Wissen über die 'richtige' zukünftige Entwicklung zu verfügen, wird man andere Ideen oder Strömungen nur als störend oder kontrarevolutionär oder ähnliches ansehen und sie bekämpfen. Auch die von der Renaissance mühsam erkämpfte Aufklärung wird zunichte gemacht, da die Naturwissenschaft nur instrumentalisiert wird, um für die Dogmen des 'wissenschaftlichen Materialimus' die Indizien zu liefern. Die behaupteten Grundgesetze werden aber nicht nur Naturgesetzen gleichgestellt und mit passenden Beispielen aus den Naturwissenschaften belegt, sondern sie werden sogar wie Axiome der Mathematik behandelt. Mit ihnen wurden Beweise geführt, so daß ein Anzweifeln des Wahrheitsgehaltes der auf den Grundgesetzen beruhenden Schlüsse nicht mehr möglich ist.

Diese Handhabung von Dogmen und ihre Zugrundelegung für Beweise hat starke Parallelen zu den Praktiken der mittelalterlichen Scholastiker. Diese bedienten sich der Dialektik des Sokrates um mittels argumentativer Logik mit den von der Kirche konstruierten Definitionen die Ketzer (Häretiker) zu widerlegen. Mit dieser Art der Argumentation wurden damals die kirchlichen Dogmen mit sich selbst bewiesen. Die Öffnung und Nutzung der Logik zur Erschließung unbekannter Gebiete wurde erst mit der Renaissance erreicht (aber möglicherweise hatten die Scholastiker die Tür dahin, durch die Anwendung der Logik, unfreiwillig aufgestoßen). Bekanntlich war dies die Voraussetzung für einen bis heute anhaltenden Boom der Naturwissenschaften und der zugehörenden technischen Entwicklung.

Das Vorstehende läßt sich zu dem Schluß zusammen­fassen, daß die Lehre des Kommunismus hinter die Renaissance in das durch Dogmen bestimmte geis­tige Leben des Mittelalters zurückgefallen ist. Eine solches, durch Intoleranz und Feindbilder bestimmtes Weltbild ist für große junge Bewegungen, die meistens religiöser Natur sind, durchaus typisch.

Der dialektische Materialismus ist ein rein mechanistisches Weltbild, in dem die beschriebenen Grund­gesetze als ‘ewige’ Wechselwirkungen bestehen. Für Moral und auch für Schuld des Einzelnen (wenn er auf der richtigen Seite steht) ist in diesem Weltbild kein Platz mehr.

Der ‘Kampf der Gegensätze’ enthält die Aufforderung, den Andersartigen zu bekämpfen, da er nicht zu der eigenen Klasse gehört. (Klar, daß im entwickelten Sozialismus am Ende alle zu der einen Klasse der Arbeiter und Bauern gehören, auch wenn sie völlig andere Berufe haben.) Individuelles Glück oder Tüchtigkeit führt hierbei in eine Gegnerschaft zu der Mehrheit der weniger Glücklichen oder - Tüchtigen. Ein Ausweg für den Ehrgeizigen bleibt hierbei allein darin, eine Führerposition bei der Masse auf der richtigen Seite anzustreben. Einzelpersonen dieser Masse bleibt, wenn sie geheime abweichenden individuellen Neigungen haben, nur die Hoffnungslosigkeit, niemals der Gleichförmigkeit entrinnen zu können, da nur diese von den anderen toleriert wird.

 

7.2.4         Ist die Lehre des Kommunismus heute tot?

Gegenwärtig werden besonders im Westen Meinungen geäußert, daß der Kommunismus jetzt endgültig ge­scheitert sei und das Thema sich somit erledigt habe. Aus dem Osten hört man hierzu wenig, bzw. un­sere Presse hält es gegenwärtig nicht für nötig, darüber zu berichten. Gleichwohl haben in allen Län­dern des ehemaligen Ostblocks die Kommunisten ei­ne Renaissance erlebt. Sie regieren heute oder haben, wie in Rußland, die Macht bei den Wahlen im Sommer 96 nur knapp verpaßt. Auch die PDS, als Nachfolgepartei der SED, ist im Gebiet der ehemaligen DDR eine sehr starke politische Kraft.

Als Gründe für den starken Zuspruch, den die Kommunisten in Osteuropa (inklusive Ostdeutschland) heu­te wieder erhalten, können u. a. folgende Punkte genannt werden:

·       Die Elite in diesen Ländern besteht fast ausschließlich aus kommunistischen Kadern.

·       Es gibt zu wenig Know How zu den Spielregeln einer Wettbewerbswirtschaft.

·       Für Probleme im Übergang zur Marktwirtschaft besteht im Volk die Neigung, wie gelernt, die Kapitalisten verantwortlich zu machen.

·       Die Verwaltungen, besetzt mit bewährten Genossen, schikanieren die junge Privatwirtschaft.

·       Die Abgeordneten in den Parlamenten, auch wenn sie nicht zu den Kommunisten gehören, mögen nur ausländischen Investoren, die im Lande kein Geld verdienen. Solche werden, als Ergebnis jahrzehntelanger kommunistischer Propaganda, als Ausbeuter angesehen, wenn sie verdientes Geld möglicherweise auch noch ins Ausland abziehen. Ihre Wähler sehen das genauso.

·       In den Betrieben können die Mitarbeiter nicht von heute auf morgen von sozialistischem Schlendrian auf produktive Arbeit umschalten. 

Viele im Westen glauben gleichwohl, daß der Ban­krott des Kommunismus so total war, daß eine Rückkehr des antidemokratischen, militaristischen Kommunismus ausgeschlossen bleibt. Hierbei wird angenommen, daß die Kommunisten ab jetzt plötzlich Demokraten seien und sich bei den nächsten Wahlen gegebenenfalls friedlich in die Opposition begeben.

Für derartig optimistische Annahmen gibt es aber keinen Grund! Marx, Engels und auch Lenin hatten stets betont, was sie vom bürgerlichen Parlamentarismus hielten. Viele Leser mögen nun glauben, daß diese Herren sich mit ihrer Lehre doch wohl diskreditiert hätten und somit, wenn überhaupt, nur ein geläuterter Sozialismus bestehen bleiben kann. Hierfür ist aber ganz entscheidend, ob es den Kommunisten gelingen kann, die im vorigen Abschnitt skizzierte Philosophie als 'ewig wahre Lehre' aufrecht zu erhalten und auf die heutigen Bedingungen glaubhaft anzuwenden.

ML war am Ende des Industriezeit­alters mangels Massen von Industriearbeitern nicht mehr modern

Es war in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende Schwä­che des ML, daß die Marx’sche Lehre kaum mehr zeitgerecht war. Sie wurde in der Zeit der frühen Industrialisierung geschrieben. Seine Thesen von der Verelendung der Industriearbeiter sind bei Kenn­tnis der damaligen Bedingungen verständlich. Hieraus folgte auch die Forderung nach Machtübernahme des Proletariats unter Führung der Industriearbeiter. Seit Jahrzehnten nimmt aber der prozentuale Anteil der Industriearbeiter bei den Arbeitnehmern ab. Auch das prognostizierte Elend hat sich bekanntlich nicht eingestellt.

Wenn man sich aber die obigen 'Grundgesetze' des dialektischen Materialismus ansieht, dann läßt sich leicht zeigen, wie die darin zugrundeliegende Schwarz - Weiß Malerei fortgeschrieben werden kann. Das Gesetz der 'Negation der Negation' sagt ja aus, daß die Entwicklung auf einer Schraubenlinie verläuft, wobei Altes wiederkommt, aber aufgrund der Richtung der Entwicklung zu höheren Systemen stets auf höherem Niveau. Um dies zu belegen, weisen die Theoretiker des ML darauf hin, daß in der Urgesellschaft, wie in der kommunistischen Gesellschaft, die Produktionsmittel nicht in Privathand waren. Die Urgesellschaft wurde im Kampf der Gegensätze negiert und durch die kapitalistische Gesellschaft abgelöst. Diese hatte bis in die industrielle Revolution deutliche Vorteile in der Effektivität der Produktion. Das sei auch der Grund, warum die Negation des Kapitalismus dialektisch sein soll, was heißt, das die im Kapitalismus entwickelte Industrie in die klassenlose Geellschaft übernommen werden soll.   

Die 2. Proletarische Revolution mit modernen Thesen im Informationszeit­alter?

Die Verkünder der nächsten proletarischen Revolution können nahtlos an die bisherige Lehre anschließen. Sie können erklären, daß es in den Ländern, in denen der 'real existierende Sozialismus' entwickelt worden war, zu einer Negation dieses Systems kam, da es nicht auf die Bedürfnisse des beginnenden Informationszeitalters abgestimmt war. Bei der Negation sei wieder ein auf Privatkapital basiertes System entstanden, diesmal jedoch auf höherem Niveau, ohne verelendete Arbeitermassen in der industriellen Produktion. Nun wird der Ungläubige einwerfen: 'Ja, aber die Arbeitermas­sen sind doch in den Ländern, die nie kommunistisch waren, gar nicht verelendet!' Bitte, lieber Leser, glauben sie nicht, daß dies unsere Verkünder in Argumentationsnöte bringen wird. Die Antwort wird etwa so lauten: 'Die Verelendung hat nur deshalb nicht stattgefunden, da über den bürgerlichen Regierungen das Damoklesschwert der proletarischen Revolution hing. Die Kapitalisten hatten mit ihren Familien in ihren Ländern aufgrund des raschen technischen Fortschritts einen märchenhaften Reichtum erlangt. Solange ihre Wirtschaft hohe Wachstumszahlen hatte, bekamen die Werktätigen zur Beruhigung einen kleinen Teil ab. Bei sinkendem Wachstum jedoch, und speziell nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus, wurden die Werktätigen massenweise in die Arbeitslosigkeit gestoßen. In Wahrheit waren die Werktätigen in den westlichen Ländern somit Nutznießer der proletarischen Revolution durch Lenin - und außerdem haben diese Länder ja von Faschisten und Imperialisten angezettelte Kriege hervorgebracht. Nur der entschlossene Widerstand aus den fortschrittlichen Ländern hatte Schlimmeres verhütet'.

Die zweite  proletarische Revolution mit modernen Thesen im Informationszeitalter?

 
So weit, so gut. Lauschen Sie nun unserem Verkünder, wie ein neues, zeitgerechtes Proletariat verelenden wird, wenn jetzt nicht die Revolution kommt: 'Der Kapitalismus im Informationszeitalter bringt wieder alle Nachteile hervor, die eintreten, wenn das Produktivkapital sich in den Händen Weniger befindet. Es entstehen mit Heimarbeitsplätzen neue Formen von Lohnsklaverei. Diese freiberuflich Tätigen haben weder Tarifverträge noch Einkommenssicherheit. Sie sind den Monopolen von großen auftraggebenden Firmen ausgeliefert. Sie arbeiten persönlich isoliert und müssen 60 Stunden pro Woche arbeiten, um für ihren Familien den Lebensunterhalt auf niedrigem Niveau bestreiten zu können. Ihre Beteiligung am kulturellen Leben besteht nur im abendlichen Konsum von kommerziellem 'Fast food' - TV. Somit wird es bald wieder Zeit für eine neue proletarische Revolution. Die Monopole der Informationsgesellschaft gehören in die Hände der Klasse der Heimarbeiter. Die dialektische Negation wird auch hier wieder erfolgreich angewandt. Die Produktionsabläufe in der Informationsgesellschaft werden übernommen und gleichzeitig die Macht der Herrschenden gebrochen. Die Mittel der allgegenwärtigen kommerziellen Werbung werden endlich nutzbringend für die 2. große proletarische Revolution eingesetzt.......'.

Diese kleine Abhandlung mag Ihnen vor Augen führen, wie schnell der dialektische Materialismus wieder reaktiviert werden kann. Karl Marx wollte die proletarische Revolution aus Empörung über die damaligen Lebensumstände der Industriearbeiter und ihrer Familien. Seine weitgehenden Forderungen sind somit verständlich. Die hierfür angewandte Verdrehung der Hegelschen Philosophie hat allerdings bis in die Neuzeit viel Unglück gebracht. Sollten die im vorstehenden Absatz aufgeführten düsteren Prognosen zum Informationszeitalter tatsächlich eintreffen, so erschiene mir die Option einer 2. proletarischen Revolution allerdings kaum abschreckender. Vielleicht wird diese Möglichkeit ja den Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft eine Warnung sein. Auch die Gewerkschaften werden sich jetzt bald entscheiden müssen, ob sie nur die Interessen der Arbeitsplatzbesitzer oder auch die Interessen von Ar­beits­losen und kleinen Zulieferern und Dienstleistern vertreten wollen (auch wenn diese ihre Leistungen den Unternehmen scheinbar in Konkurrenz zu den Arbeitern und Angestellten anbieten).

Der Sinn dieses Buches ist nicht, die Ungerechtigkeiten der westlichen Wirtschaftsordnung zu verteidigen und anhand der sichtbaren Deformationen im kommunistischen Alltagsleben aufzuzeigen, daß die liberale westliche Gesellschaftsordnung in ihrer heutigen Form immer der beste Weg sein wird, um alle Fragen von Gegenwart und Zukunft zu beantworten.

Der Sozialismus mit seiner ML - Lehre war nicht  ‘im Prinzip gut’!

Es soll gezeigt werden, welches Wertegefüge der real existierende Sozialismus in seinen ehemaligen Bürgern hinterlassen hat. Es soll aber auch der Irrtum korrigiert werden, daß die von Marx, Engels und Lenin hinterlassene Lehre gut und richtig sei und nur falsch realisiert wurde.

Ein wichtiger Punkt ist hierbei in der ML - Lehre das Fehlen von Toleranz. Der ML glaubte die Zukunft zu kennen und befaßte sich nicht mit Alternativen. Das Denken und Entscheiden übernahm die Partei. Der Mangel an Toleranz und die Neigung zur Schwarz - Weiß Unterscheidung, etwa nach dem Motto 'Wir Guten' und 'die Anderen, die Bösen' ist ein bis heute hervorstechendes Merkmal in Ostdeutschland. Dies ist die Konsequenz einer Lehre, bei der im Kampf der Gegensätze zu einem bestimmten Zeitpunkt immer nur eine Seite richtig und die andere falsch ist und diese demzufolge negiert werden muss. Die 'dialektische Negation' ist dabei die Recht­fertigung des parasitären Elementes im ML. Hierbei wird das von der bekämpften Seite Geschaffene übernommen und ein­fach behauptet, das eigene Sys­tem sei nun die historisch notwendige Fortsetzung der Entwicklung. Hierbei wird nie ernsthaft diskutiert, ob nicht das Privateigentum möglicherweise die Voraussetzung für die Schaffung und Erhaltung der Produktionsmittel des ‘Klassenfeindes’ ist.

‘Soziale Marktwirt­schaft’ als Zukunftsmodell

Wie oben gezeigt, könnte ich mir eine Entwicklung der Informationsgesellschaft vorstellen, bei der die Möglichkeit der Verstaatlichung von Produktivkapital (hier­mit ist auch der Zugriff auf Massenmedien und individuelle Kommunikationsmedien gemeint) eine notwendige Drohung ist, um auf dem erfolgreichen Mittelweg zwischen Kapitalismus und Kommunismus, der sozialen Marktwirtschaft, zu bleiben.

Demokratischer Sozialismus als demokratische Alternative

Möglicherweise könnte gerade in Ostdeutschland eine gesellschaftliche Alternative entwickelt werden. Eine reformierte Philosophie des Kommunismus, d. h. so eine Art 'Neo-ML', wäre durchaus denkbar. Notwendig wäre meines Erachtens eine elementare Korrektur, bei der das 'Grundgesetz des Umschlagens quantitativer Veränderungen in qualitative und umgekehrt' entsprechend der Hegelschen Dialektik geändert werden muß. Hegel sah als Ergebnis des Dialogs der Gegensätze die Synthese, d. h. den Kompromiß. Hiermit wäre auch automatisch das Element der Toleranz im Neo-ML eingeführt. Dies würde eine Gesellschaft er­lauben, in der Konflikte nicht durch Kampf, sondern durch Dialog und Synthese ausgetragen werden. Die in Ostdeutschland stärkere Ausrichtung am Leben im Kollektiv wäre eine mögliche Alternative zum westlichen Individualismus. Als Kompromisse wären dann auch Parlamentarismus und die Anerkennung der Gewaltenteilung als Macht­regularium möglich. Eine PDS, die eine deartige Reform durchführt, würde sich dann bald mit der SPD verschmelzen. Die von allen Linken beklagte Spaltung des linken Lagers wäre aufgehoben [34].

Zu erwähnen bleibt hier noch, daß sprungartige Änderungen mit einem raschen 'Umschlagen der Qualitäten'  durchaus existieren. Derartige Änderungen werden im menschlichen Zusammenleben als Paradigmenwechsel bezeichnet. Diese können allerdings auch in einer toleranten Gesellschaft auftreten und stehen durchaus nicht im Widerspruch zu der Hegelschen Dialektik. Sie paßt sowohl zu stetigen evolutionären Änderungen als auch zu radikalen, stürmisch vollzogenen Paradigmenwechseln.  

Hoffentlich wurde mit dem Vorstehenden klar, wie die 'Dialektik' in der kommunistischen Gesellschaftsordnung gemeint und praktiziert war. Das andere wesentliche Element ist der 'Materialismus'. Diese Vorstellung einer mechanisch funktionierenden Welt hat ebenfalls deutliche Spuren in den Köpfen der Bürger der Länder des ehemaligen Ostblocks hinterlassen.

 

7.2.5         Materialistische Weltanschauung und Atheismus

Der ML 'erkennt nicht die Existenz irgendwelcher übernatürlicher Kräfte oder eines Schöpfers an'. Dieser Satz ist ein Zitat aus dem Buch 'Grundlagen des ML', Kap. Einführung. Tatsächlich aber zieht sich durch die gesamte Lehre des ML - Materialismus die weitergehende Aussage, daß diese Kräfte und Gott nicht existieren (können). Deshalb sollten in einem 'kampferfüllten Entwicklungsprozeß alle überkommenen religiösen Vorurteile überwunden werden', damit das 'religöse Bewußtsein langsam abstirbt'.

Materialismus ist der Glaube, daß alles Exis­tierende vom Menschen bereits erkannt wurde.

Der Materialismus stellt somit einen Glauben an die Nichtexistenz Gottes dar, der sich genausowenig wie die Existenz Gottes beweisen läßt. Die Behauptung, daß generell keine übernatürlichen Kräfte existieren, kann nur als borniert bezeichnet werden. Sie beinhaltet den Glauben, mit den Naturwissenschaften alles bereits erkannt zu haben.

Dies spiegelt ein typisches Weltbild aus bürgerlichen Kreisen des 19. Jahrhunderts wieder. Der damalige Siegeszug der Maschinen in der schnell wachsenden Industrialisierung führte zu dem bis in die jüngste Vergangenheit anhaltenden verbreiteten Glauben, daß die Technik alle Probleme lösen könne. Damals glaubte man besonders in bürgerlichen Kreisen, am Gipfel der Erkenntnis angekommen zu sein [35]. Die durch die Aufklärung gebildeten Bürger und Intellektuellen in den Städten distanzierten sich damals angesichts der noch nicht so lang zurückliegenden Exzesse der mittelalterlichen Hexenverfolgung von dem bei der Landbevölkerung noch anhaltenden Aberglauben. Die physikalisch erkannte Welt galt als die einzig existierende - einzig mögliche!

Im ML - Lehrbuch wird der Materialismus als Gegensatz zum Idealismus bezeichnet. In philosophischer Hinsicht ist dies korrekt. Der Idealismus (wie auch die Religion) geht davon aus, das zuerst der Geist da war und die Materie gestaltete und der Materialismus glaubt, das zuerst die Materie da war und der Geist nur als biologisches Funktionieren des Bewußtseins des einzelnen vorhanden ist und mit dem Tod erlöscht.

Es stellt sich nun die Frage, auf welcher Basis der reine Materialist seine immateriellen Werte und Lebensquellen wie Ethik, Moral, Hoffnung und Liebe aufbaut. In den ML Lehrbüchern finden sich dazu einige Appelle; eine schlüssige Antwort scheint es aber nicht zu geben. Z. Bsp. beim Thema 'Arbeit für die Gemeinschaft' spricht das Buch 'Grundlagen..' von einer 'heiligen Pflicht'. - Dies zeigt das Problem, Menschen in einer materialistischen Welt klarzumachen, warum sie idealistischen Zielen folgen sollen.

Die Probleme der Theoretiker mit der eigenen Lehre sind auch an anderen Stellen sichtbar. Im Buch '...Materialismus' wird zu 'Bewußtsein und Gehirn' geschrieben, das kybernetische Maschinen (kann man mit ‘Roboter’ übersetzen) keinesfalls denken lernen könnten (am Ende würden die sonst die ML Bücher zusammenstöpseln und unser Autor müsste in die Fabrik). Wie immer, wenn es grob unlogisch wird, galloppiert der Text mit einem Wörtersalat los. Hierbei fallen die folgenden aufschlußreichen Aussagen: '...ist falsch und führt zu ebenso mechanistischen Vorstellungen bzw. vulgärmaterialistischen phi­losophischen Konsequenzen, wie die Gleichsetzung von physiologischen Vorgängen mit dem Ideellen' - - da staunen Sie lieber Leser, nicht wahr? Wieso kann denn eine materialistische Welt nicht mit Mechanik erklärt werden? Sind da etwa doch höhere Kräfte am Werk? Das muß wohl so sein, denn wo käme sonst das 'Ideelle' her?

Das Problem des Fehlens einer moralischen Instanz in einer materiellen Welt bei dem erklärten Ziel des Atheismus führte zu wunderlichen Kopien erfolgreicher Muster, an denen der Idealismus keinen Mangel hat. 

’10 Gebote des Sozialismus’

So wurden 1958 von Walter Ulbricht die ‘Zehn Gebote der sozialistischen Moral verkündet’. Die lauten z. Bsp: 4. Du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen, denn der Sozialismus führt zu einem besseren Leben für die Werktätigen. 7. Du sollst nach Verbesserung Deiner Leistungen streben, sparsam sein und die sozialistische Arbeitsdisziplin festigen’. 8. Du sollst Deine Kinder im Geiste des Friedens und des Sozialismus zu allseitig gebildeten, charakterfesten und körperlich gestählten Menschen erziehen. 9. Du sollst sauber und anständig leben und Deine Familie achten. 

Vergleichen Sie mal diese Gebote mit den 10 Geboten der Juden und Christen. Die ‘kleinen’ Unterschiede sind nicht klein. Die ‘guten Taten’ sollen also nur für den Sozialismus vollbracht werden. Die ‘Familie soll geachtet’ werden, die Christen sollen ‘Vater und Mutter ehren’. An einer derartig starken Bindung an Vater und Mutter sollte der Mensch im Sozialismus nicht interessiert sein. Das Kollektiv, bzw. die Arbeitsbrigade war ja seine Familie.

Ersatzreligion ‘Antifaschismus’

Als Ersatzreligion wurde für DDR Bürger der Antifaschismus entwickelt. In den 50ern hatte sich die junge DDR mit ihrer radikalen Abrechnung gegenüber den Nationalsozialisten für viele, die das Kriegs­entsetzen persönlich erlebt hatten, als die glaubhaftere Alternative gegenüber Westdeutschland empfohlen. Dies lag auch an der baldigen Einstellung der Entnazifizierungskampagne der USA, nachdem diese die Westdeutschen als Partner brauchten, um den Expansionsdrang Stalins nach Westeuropa einzudämmen.

Aufgrund der hohen Akzeptanz des Antifaschismus wurde dieser mit enormen propagandistischem Aufwand zu einer Bewegung ausgebaut. Bei vielerlei Gelegenheiten, öffentlichen Aufmärschen und Veranstaltungen wurden hierzu in langatmigen Deklarationen massenhaft Redewendungen des religiösen Weltbildes wie ‘heilige Pflicht’, ‘Schwur’, ‘Eid’ oder ‘erstes Gebot’ verwendet. Das Blutbad, welches die Faschisten angerichtet hatten, konnte hierbei nutzbringend mit der These vom Klassenfeind vermischt werden. Nach deren Erklärung war es das Monopolkapital, welches in unersättlicher materieller Gier die Faschisten gezielt gefördert hatte, um sich gewaltsam die Früchte des Schaffens der Werktätigen der Nachbarländer anzueignen. Hiernach war der 2. Weltkrieg der Versuch der Revanchisten, den historisch zwangsläufigen Verlauf der Dinge in Richtung Weltrevolution aufzuhalten.

Trotz ‘heiliger Pflicht’, ständigen Appellen und dauernden Belehrungen hatte der Materialismus dem Menschen im Sozialismus nichts anzubieten, um mit persönlichen Schicksalsschlägen oder gar mit dem Wissen, früher oder später zu sterben, fertig zu werden. Auch Ersatzriten konnten den verlorenen Sinn des früheren religösen Weltbildes nicht zurückbringen. So blieb die Jugendweihe, die die atheistische Variante der evangelischen Konfirmationsfeier ist, allein eine Gelegenheit für die Bürger, das Erwachsenwerden ihrer Kinder zu feiern.

Klassenbewußt­sein statt christlicher Nächstenliebe

Während im letzten Jahrhundert die immateriellen Werte 'Glaube, Liebe, Hoffnung' als höchste Güter gepriesen wurden, bleibt festzustellen, daß diese von der kommunistischen Ideologie nahezu ausgerottet werden sollten. Zwar wurde der Gleichheitsgedanke des Christentums übernommen, aber für die Nächstenliebe gibt es nur den Ersatz des Klassenbewußtseins. Dieses war eine reine Zugehörigkeit zu einer Interessensgemeinschaft. Die Hoffnung, ohnehin reduziert auf nur materielle Verbesserungen, war durch wiederholte Enttäuschung mit der Ost-Wirtschaft verbraucht.

In der materiellen Welt des Sozialismus blieb allein ein neidisches Aufpassen, daß der Nachbar so gleich sein mußte, daß er die gleiche Kleidung trug, das gleiche Auto fuhr und auch ansonsten um keinen Prozent vom eigenen Lebensstandard abweichen durfte. Es war für den Einzelnen klar, was die Zukunft ihm bringen wird; es bestand hohe Sicherheit, bzw. Gewissheit, daß weder Verschlechterungen noch Verbesserungen eintreten würden. Für eigene Träume auf zukünftige Verbesserungen, oder gar auf ein Herauswachsen aus der Masse, gab es keine Chance. (Dies war der wesentliche Grund für die Attraktivität des Spitzensports für junge Leute.) Mit dem erklärten und zunehmend gelebten Atheismus verschwanden auch Gottvertrauen und  Optimismus.

Bei beruflich bedingten Reisen in sozialistische Länder bin ich erstmals einer zunächst schwer verständlichen Hoffnungslosigkeit und Freudlosigkeit mehrmals persönlich begegnet. In Rumänien und in Tschechien hatte ich bei längeren Geschäftsreisen 1991/92 intensiven Kontakt zu Leuten, denen es objektiv wesentlich besser ging als ihren sonstigen Mitbürgern. Gleichwohl lebten sie in einer eher depressiven Gegenwart und hatten wenig Vertrauen in eine bessere Zukunft. Als ich aus Tschechien zurückkam, faßte ich die Summe meiner Eindrücke zu diesem Thema zusammen, mit der Aussage 'Der Osten ist gottlos'. Anfang 1994 wiederholten sich derartige Erfahrungen, nachdem wir nach Ostdeutschland gezogen waren.

An dieser Stelle möchte ich in Ergänzung zu Kapitel  4 von einem dieser Mosaiksteinchen berichten, wie ich sie heute alltäglich wahrnehme. In der (aufgrund der überwiegenden Mehrheit der Leserschaft nach wie vor Ost-) Berliner Zeitung stand ein längerer Artikel mit einem Interview, welches ein bekannter Ostberliner Journalist mit einer ebenso bekannten Ostberliner Rocksängerin durchgeführt hatte. Die Rocksängerin war krebskrank im Endstadium. Der Artikel wurde nach ihrem Tod veröffentlicht. Der Titel des Interviews war ein Zitat aus ihrer letzten Platte ‘Gib mir Asyl. Hier im Paradies. Nur den Moment, um mich auszuruhen’. Die Sängerin hatte dies getextet, bevor sie von ihrer Krankheit wußte. Diese Sehnsucht nach einer vorsichtigen, probeweisen Begegnung mit der immateriellen Welt erscheint mir hier in Ostdeutschland kein Einzelfall zu sein. Es macht mir Hoffnung (‘bin Optimist).

Aufschlußreich war auch ein anderer Interviewteil. Beide unterhielten sich darüber, daß man jetzt beim Liederschreiben das Problem haben kann, daß man ‘nicht mehr so richtig weiß, worüber man schreibt ..... Du siehst den Gegner nicht mehr’ ‘Stimmt. Das geht uns aber allen irgendwie so. Du ballst die Fäuste, schlägst um dich, und triffst überhaupt nichts. Gar nichts, du siehst zwar was, aber du triffst nicht’.

Vielen Ostdeutschen ist der Feind abhanden gekommen

Ein verbreitetes Problem in Ostdeutschland. Mit dem erlernten Schwarz - Weiß Bild und einem starken Zugehörigkeitsgefühl zur eigenen Klasse im Kopf, welches aus ‘Wir (fortschrittlichen) Guten’ und ‘Die (zu negierenden) Bösen’ besteht, wird nach dem Feind Ausschau gehalten. In der DDR funktionierte das. Nachdem viele Ostdeutsche die Mär vom westlichen Klassenfeind nicht mehr geglaubt hatten, konnte sie in den 80er Jahren das Bild von der geteilten Gesellschaft leicht auf ‘die, da oben’ und ‘wir, hier unten’ anwenden. Es ist eines der Erfolgsrezepte der PDS, daß ‘die, da oben’ für ihre Wähler heute in Bonn sitzen. Für unsere beiden Interview­partner war das jetzt nicht mehr so leicht. Sie hatten bereits Karriere gemacht und waren jetzt selbst nicht mehr 'unten'. Vielleicht ist es eines der aktuellen Probleme in Ost – Deutschland, daß vielen der Feind abhanden gekommen ist. So zerbröseln die alten Werte und die Werte der anderen Welt sind noch fremd.

 


7.2.6         Anwendungsbeispiele der Theorie in der Praxis

7.2.6.1     Stasi

Im Buch 'Grundlagen....' ist im Abschnitt 'Das Verhältnis der Arbeiterklasse zur Gewalt'  nachzulesen 'Wenn das Häuflein konterrevolutionärer Verschwörer rechtzeitig unterdrückt wird, braucht später weniger Blut vergossen zu werden'.

Stasichef Mielke hatte am Schluß in der Volkskammer, sichtlich verwirrt durch die erstmals offenbar gewordene breite Ablehnung, ausgerufen '....aber ich liebe euch doch alle!'. Offenbar hatte er auch nur 'weniger Blut vergießen' wollen....

7.2.6.2     Frieden

Der ML sagt aus, daß die Revolution eine historische Zwangsläufigkeit ist, um die Arbeiterklasse an die Macht zu bringen. Der Klassenfeind hat demnach die Schuld, wenn er sich gegen die Erfüllung des historisch Unausweichlichen und Notwendigen wehrt. Die Kommunisten hingegen 'bevorzugen gewaltlose Methoden' (wenn der Feind kapituliert).

7.2.6.3     Toleranz

Die ML Lehre hat Zukunftsgewissheit und hierbei den Anspruch, die allein infrage kommende zukünftige Lebensform anzustreben. Der Wechsel zu der kommunistischen Gesellschaft sei unausweichlich.

Mit dieser Grundeinstellung wird jeglicher Gedanke an mögliche Alternativen als schädlicher Wegbereiter einer Konterrevolution angesehen. Da keine Frage besteht, daß der ML siegen wird, stellt sich nur die Frage nach der Härte der Auseinandersetzung. Es ist mit dieser Logik somit viel humaner, schädliche Gedanken frühzeitig aufzuklären (das konnten in der DDR neben der Stasi auch andere Bürger recht gut) und den einen oder anderen Unbelehrbaren einzusperren, als später eine größere Zahl von Revisionisten an die Wand stellen zu müssen.

Scheinbare Kompromisse und Lügen sind seit Lenin erlaubte taktische Mittel im Umgang mit dem Klassenfeind oder mit dem Volk, das ja zu seinem Glück gezwungen werden soll.

7.2.6.4     Wahrheit und Logik

In den Lehrbüchern zum ML wimmelt es von hahnebüchenen Logik - Kopfständen. Derartige Verbiegun­gen bis hin zu schamlos ausgesprochenen kompletten Widersprüchen innerhalb eines einzigen Satzes sind keine Seltenheit. Offenbar mit der Devise 'Hauptsache, die Richtung stimmt' kamen Blüten zustande wie der folgende Satz (Buch '...Mate­ria­lis­mus', Kapitel 'Die Grundfrage der Philosophie'): 'Aus der Parteinahme für die Interessen der Ausbeuterklassen (durch die bürgerliche Philosophie) resultiert ebenso notwendig die politische und theoretische Beschränktheit aller in Ausbeuterordnungen herrschenden Philosophien, wie die offene Parteinahme der marxistisch - leninistischen Philosophie für die Interessen der Arbeiterklasse gesetzmäßig die Wissenschaftlichkeit dieser Philosophie bedingt'. Auch hier gilt also wieder, daß das gleiche Tun, nämlich die Parteinahme, auf der anderen Seite Nachweis der Beschränktheit ist, während sie für die eigene Seite Nachweis der Wissenschaft­lichkeit ist.

Die hierbei angewandte besondere Logik hat Spuren in den Köpfen nicht weniger Ostdeutscher hinterlassen. Die intensive Lehre des ML in mehrstündigem wöchentlichen Unterricht in Schule und Studium hat sicherlich in vielen Fällen Ähnlichkeit mit einer Gehirnwäsche gehabt. Dies um so mehr bei ehrgeizigen Lernenden, da eine schlechte Note in ML für die spätere Karriere sicherlich schädlich sein musste. Sie hatten sich also in diese Lehre zu vertiefen, um den Erwartungen der Prüfer entsprechen zu können. Die verquerte Zweck - Logik des ML und die dahinter stehenden Werte spiegeln sich heute noch im Alltag bei Aussagen von manchen Ostdeutschen wieder.

 

7.3               Unterschiedliche Erfahrungsmuster in den Köpfen

Die vorstehenden Ausführungen sollen nicht die Ostdeutschen diskriminieren oder aufzeigen, daß sie jetzt 'umerzogen' werden müssen. Es geht allein darum, den Unterschied zu akzeptieren, der durch das Leben in einer im Vergleich zum Westen völlig andersartigen Gesellschaftsform ausgeprägt wurde.

Hierzu ist es auch ein Grundwissen notwendig, um zu verstehen, wie unser Gehirn die Lebenserfahrungen und Werte der Gemeinschaft, in der man lebt, verarbeitet und speichert.

Erinnerungen werden im Kopf in einer räumlichen Matrix von selbstorgani­sierenden Mustern gespeichert

Edward De Bono (1991) [36] benutzt ein anschauliches Modell um zu beschreiben, daß es sich beim Gehirn um ein aktives selbstorganisierendes System handelt. Er beschreibt hierbei das neuronale Netzwerk im Kopf als ein aktives, veränderliches System, in dem Wahrnehmungen wie Muster abgespeichert werden. Große neue Wahrnehmungen, wie zum Beispiel einschneidende Veränderungen, führen zu großen Reorganisationen der anderen Muster im Kopf, um Platz für das neue, sehr gewichtige Muster zu schaffen. Diese Unruhe im Kopf wird als unangenehm empfunden. Viele 'bewährte' Muster können in Frage gestellt sein. Erst nach einiger Zeit hat sich ein neues Gleichgewicht eingestellt, der Mensch ist wieder mit sich und seiner Umwelt 'im Reinen'.

‘Unruhe’ im Kopf, bei neuen starken Eindrücken

Dieses Wirkungsmodell gibt tatsächlich viele Aufschlüsse für Erlebnisse, wie wir sie mit uns selbst gerade in bewegten Zeiten machen. Ich habe dies Durcheinander im Kopf in bestimmten extremen Situationen bis zu einem Ausmaß erlebt, daß ich mich über das eigenen Verhalten wundern musste. Mit dem Studium der Erklärungen von De Bono habe ich verstanden, daß mein Verhalten einfach 'mensch­lich' war und auf der prinzipiellen Grundfunktionalität unseres Gehirns beruht.

Diese Erkenntnisse haben mir auch geholfen, ein besseres Verständnis zu erlangen, was für unsere ostdeutschen Landsleute die dramatischen Wertewandel und persönlichen Einschnitte in ihr Leben bedeuten mußten, die sie seit Herbst 1989 durchlebten. Hierzu gehört auch die Erklärung, warum eine weitverbreitete Neigung besteht, die aktuellen Ereignisse mit dem erlernten sozialistischen Weltbild in Einklang zu bringen. Angesichts hoher Arbeitslosenzahlen fallen Aussprüche wie 'Was wir in der Schule über den Kapitalismus gelernt haben, ist doch richtig'.

Insbesondere De Bonos sehr bildhafter Vergleich un­serer Wahrnehmungsfähigkeit mit einer Landschaft gibt die Grundlage zu dieser Erklärung:              

Unsere Wahrnehmung geht in unser Gehirn ein, welches ein aktives selbstorganisierendes System ist. Dieses ist durch unsere persönlichen Lebenserfahrungen geprägt. Die Analogie hierzu ist eine aktive selbstorganisierende Oberfläche; in De Bono's Beispiel eine ebene große Fläche in der der niederfallende Regen eine unverwechselbare Landschaft formt.

Wäre diese Landschaft ein passives System, so würde der Regen an Ort und Stelle spurlos versickern, oder bei Wasser­undurchlässigkeit würde sich überall ein mehr oder minder hoher Wasserstand einstellen.

Vergleich unserer Wahrnehmungsfä­higkeit mit einer vom Regen geformten Landschaft

Da es sich jedoch, wie eigentlich immer in der Natur, um ein aktives System handelt, welches in Wechselwirkung mit dem eingetragenen Regen tritt, passiert folgendes: Durch den Regen sammelt sich das Wasser in den vorhandenen Bodenmulden. Da die Landschaft unterschiedlich hoch ist, fließt das Wasser in tiefergelegene Mulden (dies passiert auch bei sehr geringen Höhenunterschieden). Bis zu diesem Zeitpunkt hat die Landschaft noch wie ein passives System reagiert. Wenn es nun nicht mehr regnen würde, würde das Wasser verdampfen oder versickern und die Landschaft bliebe unverändert. Nachdem das Wasser jedoch kurze Zeit geflossen ist, haben sich Rinnsale und Bäche gebildet, in denen das Wasser Erdmaterial mit fortträgt und die Bäche vertieft. Bei weiteren Regenfällen fließt das Wasser bevorzugt durch diese Bäche ab. Danach bilden sich Flüsse und schließlich wurde eine Landschaft geformt, in der die Wege des Wassers eindeutig vorgezeichnet sind. Es wird somit weniger durch den Ort des eingehenden Regens, sondern vielmehr durch die Ausprägung der Landschaft bestimmt, an welchen Orten sich der eingehende Regen schließlich sammelt.

Ähnlich hierzu prägen die individuellen Erfahrungen die Wahrnehmungs - 'Landschaft' in unseren Köpfen. Nachdem bestimmte Eindrücke die ersten Spuren im Kopf hinterlassen haben, ist bereits der Weg vorgezeichnet, den spätere Eindrücke nehmen werden [37]. Aus den Rinnsalen werden mit zunehmendem Alter Wahrnehmungs - Flüsse. Diese haben große Einzugsbecken, d. h. wenn Eindrücke an unterschiedlichsten Orten in einiger Entfernung von den Flüssen eingehen, enden diese schließlich immer wieder am Ende des jeweiligen Flusses am glei­chen Ort. Zwei Menschen mit unterschiedlichen Biographien können bei gleichen eingehenden Informationen somit zu völlig unterschiedlichen Wahrnehmungen kommen. Demgemäß ist leicht er­klär­lich, warum sie dann auch zu völlig unterschiedlichen Be­wer­tungen gelangen können.

Die Wahrnehmung wird im wesentlichen durch die Ausprägung der Wahrneh­mungsland­schaft in den Köpfen bestimmt

Es gibt genug Beispiele, die belegen, daß bei den un­ter­schiedlichen Wahrnehmungen jede Seite ihre sub­jektive Wahrheit sehen kann:

·       Ein Jäger wird im Erlegen des Wildes einen Akt zur Aufrechterhaltung des natürlichen Gleichgewichts in seinem Revier sehen. Ein Tierschützer wird ihm hingegen unterstellen, daß er mit dem Jagen nur seine animalischen Instinkte befriedigt.

·       Ein Kirchenmann ruft zur Fruchtbarkeit und Vermehrung auf. Dies beruht auf seinem Glauben, daß jeder Neugeborene Teil der Schöpfung und des Planes Gottes ist. Ein anderer Mensch mag in der durch Menschen zugelassenen Bevölkerungsexplosion einen mit offenen Augen begangenen allgemeinen Selbstmord sehen.

·       Eine Person, die im sozialistischen Machtbereich viele Jahre zu 1. Mai - Demonstrationen befohlen wurde, um dort jährlich mit den 'Winkelementen' am verordneten Jubel teilzunehmen, kann in der Aufforderung zur Teilnahme an einer Demo eine Neuauflage zu dem jahrelang erlebten Einschnitt in die Selbst­bestimmung sehen. Eine Person aus dem Westen kann in der gleichen Situation zu der persönlichen Entscheidung kommen, jetzt mit Gleichgesinnten auf die Straße zu gehen. - Das ist jetzt eine der vielen Stellen in diesem Buch, die Gelegenheit zu Mißverständnissen gibt. Selbstverständlich kann auch umgekehrt der Ostdeutsche in dieser Situation aus freiem Willen demonstrieren gehen und der Westdeutsche zu Hause bleiben. Aber, um an dieser Stelle noch einen draufzulegen, möchte ich doch behaupten, daß die Entscheidung zur Teilnahme auch heute noch im Osten häufiger vom Kollektiv gefällt wird, bzw. von den Leithammeln im Kollektiv, und im Westen häufiger durch die Einzelperson.

Natürlich werden diese unterschiedlichen Wahrnehmungen gleicher Situationen besonders dann konfliktträchtig, wenn unterschiedliche Interessenslagen vorliegen. Und das ist die Regel! Auch hierfür zwei Beispiele:

·       Der Arbeiter wird in der Einführung von Studiengeld einen Versuch der Besserverdienenden sehen (früher hätte man von 'Bürgerlichen' gesprochen), die Hochschulen für ihre Kinder zu reservieren und damit ihre Privilegien zu sichern. Ein 'Besserverdienender' mag in der Überbelegung von Hochschulen lediglich eine Verschwendung von Steuergeldern und zukünftige Akademikerarbeitslosigkeit sehen.

·       Der Palästinenser kämpft für das Land seiner Väter und der Israeli für das Land seiner Vorväter. Beide sehen sich im Recht. Hier liegt ein derartig existenzieller Konflikt vor, daß es äußerst fraglich ist, ob der zur Zeit geltende relative Friede gewahrt bleiben kann.

De Bono weist als Weg für die Lösung grundlegender Probleme auf die Methoden des ‘Designs’ hin, was sich in diesem Zusammenhang wohl am besten mit ‘schöpferischer auf Kreativität beruhender Gestaltung’ übersetzen läßt. Zusätzlich ist es oftmals erforderlich, eine Änderung des Systems vorzunehmen, um eine neue Ausgangslage herbeizuführen mit der sich das Problem lösen läßt. Dies besagt, daß evolutionäre Verbesserungen mit kleinen Schritten dann nicht mehr weiterhelfen, wenn die Umstände es ratsam erscheinen lassen, zu radikalen Änderungen im Gesamtsystems zu greifen. - Offensichtlich bedarf es des radikalen Umdenkens, wenn die obengenannten Israeli und Palästinenser einen Weg für das friedliche Zusammenleben finden wollen.

Als Konsequenz aus der beschriebenen Funktionsweise unseres Gehirns folgt, daß bei Ostdeutschen heute und in Zukunft (wie lange?) gleiche Informationen zu verschiedenen Wahrnehmungen führen werden, wie bei Westdeutschen. Viele Ostdeutschen können häufiger folgendes wahrnehmen:

·       Erfolgreiche Unternehmer als Ausbeuter,

·       Bürgerliche in der Nähe von Klassenfeinden,

·       Hausfrauen ohne Erwerbsarbeit  als faule Luxus - Ehefrauen,

·       Einkommen als Ergebnisse des aktuellen Verteilungskampfes und weniger als Früchte der Arbeit,

·       Wirtschaftliche Probleme als Alleinschuld des Kapitals,

·       die Regierenden als Zugehörige einer herrschenden Klasse,

·       Wahlen als Ergebnisse von Manipulationen der Medienbesitzer,

·       politische Entscheidungen als Willkürtaten einer Klasse von Herrschenden.

 

 

 

8      Schlußwort

Die Ostdeutschen haben 40 Jahre in einem System gelebt, in dem die Doktrien des Marxismus Leninismus verfolgt wurden. In Kinderkrippe und - tagesstätte, Schule und Beruf wurden sie intensiv mit den Werten und dem Lebensgefühl der sozialistischen Gesellschaft ausgestattet. Statt Freiheit gab es Behütetsein, statt individueller Entwicklung wurde kollektive Anpassung gelebt, statt Wohlstand durch Leistung konnten Wenige Privilegien im Verteilungssystem erringen. Die kommunistische Grundphilosophie der Negation des Gegensatzes war die Basis, mit der man die Bürger vor die Alternative stellte, zur bestimmenden Klasse zu gehören und sich einzufügen oder zum Klassenfeind. Diese Philosophie war auch die Grund­lage, daß Toleranz und immaterielle Werte zurückgedrängt wurden.

In den letzten Jahren waren die Ostdeutschen mit dramatischen Infragestellungen aller ihrer erlernten Werte konfrontiert. Die drohende Orientierungslosigkeit führte zu einer Reaktivierung der erlernten alten Muster. Westdeutsche wurden in die Kategorien ‘Besserwessis’ oder ‘Abzocker’ eingeordnet. Unternehmer aus dem Westen waren ‘Plattmacher’.

Dieses Buch geht schwerpunktmäßig auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Ostdeutschland ein. Es beschäftigt sich weniger mit den vielen kleinen Unterschieden in Ost und West. Tatsächlich ist es mir relativ egal, ob eine Besprechung bzw. ein Meeting im Osten als Beratung bezeichnet wird (solange es keine Belehrung wird, was leider noch oft der Fall ist). Auch die Neigung von Ostdeutschen, sich beim Zusammentreffen alle gegenseitig die Hände zu schüt­teln, was dann auch bei der Verabschiedung wiederholt wird, sehe ich als eine regionale Eigenheit. Wenn ich nach Ostdeutschland umziehe, ist mir klar, daß ich die örtlichen Verhaltensweisen anzunehmen bzw. zu akzeptieren habe. [38]

Der Erfolg des Versuches, die Wiedervereinigung in einem einheitlichen Wirtschaftsraum ohne eine länge­re Übergangsfrist zu vollziehen, hängt jedoch vom wirtschaftlichen Erfolg ab. Die Ostdeutschen haben den neuen Wohlstand gerne und schnell angenommen und wollen ihn auch nicht verlieren. Die hohen Renten und die Gehälter im öffentlichem Dienst in Ostdeutschland können nur aufrecht erhalten werden, wenn diese mittelfristig auch in Ostdeutschland erwirtschaftet werden.

Die Beispiele im Buch zeigen, daß wir von diesem Ziel noch weit entfernt sind. Hierzu wurden auch viele Fehler bei der Umgestaltung der ostdeutschen Wirtschaft gemacht. Die Aufbau - Milliarden wurden in Ostdeutschland mehr verteilt als investiert. Die Profiteure waren allzu oft bei den Mitgliedern alter Kader zu finden. Der hierbei aufgetretene Mangel an Bemühen um Gerechtigkeit hat das Vorurteil vieler Ostdeutscher verstärkt, von einer ungerechten und unsozialen Gesellschaft übernommen worden zu sein.

Einheit ohne Einigkeit ??

 
Am Schluß des Buches wurden einige Vorstellungen dargelegt, wie sich Ostdeutschland in den nächsten Jahren entwickeln könnte. Die  Drohung eines Bruches zwischen Ost - und Westdeutschland scheint real. Andererseits scheint es durchaus noch Wege zu einer positiven Entwicklung einer sozialen Gesellschaft in Wohlstand zu geben. Die wirtschaftliche Einheit kann es aber auf Dauer nicht ohne ein Mindestmaß an Einigkeit geben.

Einheit ohne Einigkeit ??

 
Hierzu bedarf es einer Hinwendung der Ostdeutschen zu den Werten der freien Europas. Diese Werte liegen in der christlich, abendländischen Tradition und in dem vom Philosophen Hegel beschriebenen Fortschritt, der als Synthese aus dem Dialog von These und Antithese folgt. Diese müssen das kommunistische Weltbild, von zu bekämpfenden und zu negierenden Ge­gen­sätzen, von Klassenfeinden, die sich außerhalb der eigenen Klasse der Arbeiter und Bauern befinden, und von einer rein materialistischen, gottlosen Welt, ersetzen.

Die Ergebnisse der anstehenden politischen Auseinandersetzung um diese Grundwerte werden den Weg Ostdeutschlands und wohl auch Osteuropas in den nächsten Jahren und Jahrzehnten bestimmen.



[1] Dies Buch wurde geschrieben im Sommer 1997. Eine Überarbeitung würde heute einige Details graduell verändern; hierzu gehört auch meine heutige Sicht, aber auch das heute beobachtete Verhalten. Die Kernaussagen sind aber nach aber z. Zt. noch gültig.  

[2] Wolf Wagner, ‘Kulturschock Deutschland’, ISBN 3 - 88022-376-9, Rotbuch - Verlag, 1996

[3] Per Ketman, Andreas Wissmach, ‘Anders reisen: DDR’, ISBN 3 499 17568 1, Rowohlt Verlag, 1986

[4] Bei der Besprechung wird in Ostdeutschland nach wie vor zwischen Belehrungen und Beratungen unterschieden. Die Belehrung war die weitaus häufigere Form der Besprechung.

[5] Manche mögen sonst einwenden, daß die beschriebene Freiheit nur für eine Kindheit auf dem Lande möglich sei.

[6] Sie sagte nicht ‘Freunde’, sondern ‘Bekannte’

[7] Das Ostpendant zur Besprechung bzw. Meeting (Neudeutsch).

[8] In Gesprächen ist nach wie vor immer wieder festzustellen, daß für viele Ostdeutsche 'Geld haben' und 'etwas leisten' Dinge sind, zwischen denen keineswegs eine ursächliche Beziehung bestehen muß. Hierbei entsteht häufig der Eindruck, daß die Westdeutschen nur einfach Glück hatten, weil bei ihnen Geldquellen aus dem Boden sprudeln. Das ist jetzt, Lenin sei Dank, seit 1990 gerechterweise auch in Ostdeutschland der Fall. In diesem Zusammenhang sagte kürzlich ein thüringischer Politiker 'Wir lassen uns nicht von den Bonnern vorschreiben, was wir mit unserem Geld zu machen haben’ (das aus Bonn, wohlgemerkt).

[9] Möglicherweise beruhte unsere unterschiedliche Sichtweise auf der Tatsache, daß er aus einer traditionell gutbürgerlichen Familie kommt und ich aus einer Arbeiterfamilie. Vielleicht kann ich besser denen nachfühlen, die damals angesichts ihrer Benachteiligung bei den Besitzverhältnissen zu dem Schluß kamen, zu emigrieren.

[10] 'Dekadente Kunst aus dem Westen'. In der Rockmusik wird individuelles Glück und Freiheit besungen, es gibt auch viel Kritik an herrschender Politik und bürgerlicher Spießigkeit.

[11] Was nicht heißen soll, daß der Westen so weiter machen kann. Wir werden in Zukunft gemeinsam eine Lösung für Ost und West finden müssen.

[12] Helga Königsdorf , 'Adieu DDR', ISBN 3 499 12991 4, Rowohlt Verlag, 1990

[13] Neuerdings hat sich auch im Westen die Angewohnheit verbreitet, Kritiker der Idee der multikulturellen Gesellschaft generell als ‘Ausländer­hasser’ zu diffamieren. Auf diese Art werden politische Gegner in einen Topf mit faschistoiden Gewaltanwendern gegen Ausländer geworfen. Das Wort wird somit als nützliches Totschlagsargument in der politischen Diskussion genutzt. 

[14] Wie Sie alle wissen, liebe Leser, ist Luzifer der biblische Name für Satan, bzw. den Teufel.

[15] ...dies gilt auch, wenn ein Chef aus dem Westen über ihm plaziert wird. Dieser erreicht das Kollektiv der Mitarbeiter  nicht.

[16] Hierzu ein Satz aus Kreisen der DDR - Werktätigen: 'Der Staat tut so als würde er uns für unsere Arbeit bezahlen und wir tun so, als ob wir arbeiten.'

[17] Die Berliner Zeitung berichtete am 19.4.96 zur Übernahme der Chemiewerke des sächsischen Olefinverbundes. Für den Erhalt von ca. 3000 Arbeitsplätze wurden staatliche Subventionen in Höhe von 9 Mrd. DM zugesagt, d. h. 3 Millionen DM pro Arbeitsplatz !!

[18] Artikel ‘Harmonie und Respekt als Lebensziel’, Berliner Zeitung, 4.12.96

[19] .. und dies ist ein Punkt, bei dem es in Ost- und Westdeutschland kaum einen Unterschied geben dürfte.

[20] Dies Gleichgewicht ist die erste Voraussetzung für Vollbeschäftigung in einer sozialen Marktwirtschaft. Die Zweite scheint mir zu sein, daß in einer stagnierenden Wirtschaft der Durchschnitts - Kapitalertrag (nach Steuern) gegen Null gehen muß, d.h. nur Risikoinvestitionen können im positiven Fall dann zusätzlichen Ertrag bringen. Bei Null Risiko müßte auch der Ertrag Null sein. Bei höheren Kapitalerträgen würden bei Null - Wachstum sonst die Reichen reicher und demzufolge die Armen ärmer. Dies würde auch den Konsum verringern und somit weitere Arbeitsplätze kosten. Offensichtlich sind neue Spielregeln unter den Industrieländern notwendig, damit nicht im Wettbewerb um Investitionskapital diese Voraussetzung weiter verletzt wird.

[21] Viele Ostdeutsche haben ein Problem damit, wenn ihre Arbeitgeber Profit machen. Eine Nachbarin erzählte mir mal am Zaun mit deutlicher Verärgerung, daß Ihr Chef 'Millionen verdient'. Der war ein kleiner Bauunternehmer mit 20 Leuten, d. h. falls die Zahl nicht völlig irreal war, mußte sie wohl den Umsatz mit dem Verdienst verwechselt haben. Mit dem so hoch angenommenen Einkommen Ihres Chefs hatte sie offensichtlich ein Problem. Sie wollte zwar einen sicheren Arbeitsplatz, aber keinen gut verdienenden Arbeitgeber (sprich 'Ausbeuter').

[22] Dies gilt wohl weniger in sicheren Stellen im öffentlichen Dienst.

[23] ... oder erhält sie von Westdeutschland zugewiesen?

[24] Der Geschmack der Freiheit’, Artikel im Magazin ‘Spiegel’ am 4.11.96

[25] Bei linearen Systemen gibt es proportionale Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung. D. h. wenn in einem linearen System 10 % Aufwand 20% Ertrag bringen, dann müssen 30% Aufwand 60% Ertrag bringen. Die Annahme von linearen Zusammenhängen ist aber in der Regel nur bei kleinen Änderungen praxistauglich.

[26] bzw. ihre Qualität sprungartig ändern - wie schon Marx wußte, s. Abschnitt 7.2.2

[27] Bei jungen Hunden ist jedenfalls anerkannt, daß sie Verhaltensstörungen aufweisen, wenn man sie früher als 6 Wochen von ihren Muttertieren trennt - und ein Hundejahr entspricht ja bekanntlich 7 Menschenjahren. Dies scheint mir ein gutes Argument für zumindest 1 Erziehungsjahr für junge Mütter, mit Freistellung von beruflicher Tätigkeit, zu sein. 

[28] Falls manche Leser jetzt daran Anstoß nehmen, daß diese Ausführungen zur täglichen Suche nach erwünschten Waren nicht in den Abschnitt mit ’Soziale Sicherheit’ gehören, dann vielleicht deshalb, da zur Beständigkeit des Mangels keine Unsicherheit bestand (mit Mangel sind hier knappe Wunschartikel gemeint; Hunger mußte keiner leiden). Mit dieser Logik wäre also ein Zustand des Überflusses, der ein Risiko beinhaltet, eventuell einmal in eine Mangelsituation zu stürzen, der schlimmere Zustand als der andauernde Mangel (wobei mit Arbeitslosengeld nach der Wiedervereinigung der Lebensstandard immer noch deutlich höher als in der DDR ist).

Statt Einkommensunsicherheit gab es Versorgungsunsicherheit, bei sicherer Grundversorgung.

[29] 'Dialektischer und historischer Materialismus', Dietz Verlag Berlin, 1974

[30] 'Grundlagen des Marxismus - Leninismus', Dietz Verlag, 1962

[31] Es mag sein, daß jetzt einige Schriftgelehrte aus der DDR bemängeln, wie ich mich auch auf ein so veraltetes Buch berufen kann. Tatsächlich wird in diesem Buch auch häufig der Genosse Chruschtschow zitiert. Dies wird in späteren Büchern wohl kaum passiert sein. Es war eine der Eigenarten der real existierenden Lehre des ML, daß die Verkünder der ewigen und absoluten Wahrheiten schon kurze Zeit später verschwunden sein und totgeschwiegen werden konnten.

[32] Im Buch wird das immer wieder genüßlich ausgeschrieben, so wie früher in der 'Aktuellen Kamera, der Nachrichtensendung des DDR Fernsehens, auch der Genosse Honecker immer, wenn er erstmals erwähnt wurde, mit der vollen Länge aller seiner Titel genannt wurde.

[33] Oder hat das Autorenkollektiv solche Texte in gemeinsamen Sitzungen formuliert ??

[34] Wichtig wäre dann noch, daß nicht wieder die gleichen Fehler gemacht würden, wie sie die SPD in den frühen 70ern machte. Helmut Schmidt, der spätere Bundeskanzler, hatte 1972 in flammenden Reden den demokratischen Sozialismus gefordert. Dieser war erklärt mittelstandsfeindlich. Durch Vermögensbildung sollten die Arbeitnehmer an den Produktionsmitteln beteiligt werden. Der Endzustand wäre dann eine Wirtschaft gewesen, die aus Großbetrieben bestand, in der die Arbeitnehmer aufgrund von Mitbesitz und Mitbestimmung das Sagen gehabt hätten. Ich fand dies Modell zunächst gut. Jahre später wurde auch mir klar, wie schädlich eine mittelstandsfeindliche Politik ist. Während Aktionäre, d. h. auch Kleinaktionäre, in der Krise mit ihrem Geld das Weite suchen, kann man sagen, daß der Mittelstand ‘an der Scholle klebt’ und seinen Betrieb auch in schlechten Zeiten durchbringt. Während einer Konjunkturdelle 1974 wurden Stimmen von SPD - Politikern veröffentlicht, die erklärten, daß im nächsten Jahr die ersten Sparverträge zur Vermögensbildung ablaufen würden und sich dann hoffentlich viele Sparer hiervon ein neues Auto kaufen würden. Dies würde dann die Konjunktur ankurbeln. So wurde damals der Gedanke der staatlich geförderten Vermögensbildung schon von Anfang an ad absurdum geführt.

[35] Aus den USA gibt es hierzu eine passende Geschichte. Etwa 1880 hatte ein Lokalpolitiker den Antrag gestellt, man solle doch das örtliche Patentamt schließen. Schließlich sei doch jetzt alles Vorstellbare erfunden und das Patentamt somit nicht mehr erforderlich.

[36] E. de Bono, ‘Der Klügere gibt nicht nach - Vom erstarrten zum fließenden Denken’, ISBN 3-612-26054-5, ECON, 1993

[37] In dieses Modell paßt auch gut die anerkannte Erfahrung der besonders nachhaltigen Prägung durch frühkindliche Eindrücke.

[38] Aber auch schon an diesem harmlosen Beispiel des Händeschüttels zeigen sich die Schwierigkeiten, die dadurch auftreten, daß die Ostdeutschen ihre im Sozialismus erworbenen (bzw. aus Vorkriegszeiten stammenden) Angewohnheiten mit in die neue Bundesrepublik bringen. Das Händeschütteln wird nämlich auch bei Gleitzeit im Büro beibehalten. Dies heißt, das morgens mindestens eine Stunde lang ständig ein gerade angekommener Mitarbeiter rundgeht und jeden in seiner Gruppe mit Handschlag begrüßt und somit in seiner Konzentration auf seine Arbeit stört. Nachmittags, sobald der Erste geht, wiederholt sich das Ganze.